Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
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Rainer Hudemann

Arbeiter- und Industriewohnungsbau

Im Kapitel Städtebau werden Wirkungslinien von Stadtbaukonzepten und Stadtentwicklungsprozessen über die Grenzen hinweg dargestellt. Wie im administrativen und bürgerlichen, gutenteils zugleich Repräsentationszwecken dienenden Städtebau in Großstädten wie Metz und Luxemburg, so schlug sich die grenzüberschreitende architektonische Einflußvielfalt auch im Bereich des Industriewohnungsbaus nieder, vor allem in Arbeitersiedlungen. Die hier ausgewählten Beispiele für solche Siedlungen, die vor allem bei den Grubensiedlungen stets auch Beamtenhäuser umfaßten, repräsentieren sowohl die Unterschiede zwischen deutschen und französischen Wohnformen als auch in anderen Fällen eine Kontinuität deutschen und französischen Arbeiterwohnungsbaus unter französischer Dominanz. Lothringische und deutsche Architektur kann hier nebeneinander stehen wie in Nilvange, wo stärkere oder zurückhaltendere deutsche Prägung bis in die Unterschiede von Direktoren- und Arbeiterhäusern zu beobachten sind. Auch die Finanzierungsmöglichkeiten über die Sozialversicherung, welche die deutsche Gesetzgebung seit 1889 bot, wurden in Nilvange genutzt. Die französische Grubenverwaltung brachte nach 1918 französische Bauformen ins Saarland, etwa in Häusern und Bepflanzungsformen in Landsweiler-Reden, wo sie sich teilweise auch mit preußisch geprägten Formen verflochten. Doch mußte deutsch-französischer Herrschaftswechsel nicht notwendigerweise mit neuen Bauformen einhergehen, wie die Hausformen der Grubensiedlungen im Köllertal und in Friedrichsthal zeigen.

Doch blieb zwischen Lothringen und der Saar ein wesentlicher Unterschied. Die Arbeitermigration nach Lothringen war erheblich größer als im Saarland. Dort blieb die alte Tradition des Industriebauerntums erhalten und wirkte sich auf die Arbeiter- und Wohnkultur aus: Der Hausbesitz war und blieb im Saarland weiter verbreitet als in Lothringen, wo lebenslanges Wohnrecht im Haus zwar auch in Einzelfällen bis heute erhalten blieb, die „Arbeiterkasernen“, wie man sie im Kaiserreich nannte, jedoch einen weit größeren Teil der Arbeiterschaft beherbergten. An der Saar behielten viele Arbeiter ihren ländlichen Besitz und kehrten im Alter oft auf ihn zurück, und die Unternehmen förderten über die betriebliche Sozialpolitik gezielt den Erwerb von Wohneigentum oder Dauerwohnrecht als wichtiges Instrument sozialen Friedens und der Bindung der Belegschaften an den Betrieb.

Ein besonders interessantes Beispiel solcher grenzüberschreitender Wirkung von Konzepten stellt die Gartenstadt dar, über die im Rahmen der Kleinwohnungsbau-Diskussion in Deutschland im Kaiserreich vehement gestritten wurde. Im britischen Verständnis, wie Ebenezer Howard es 1898 formulierte, sollten Gartenstädte Arbeiten, Wohnen und Freizeit in einem harmonischen gesellschaftlichen Geflecht zusammenführen. In Deutschland hatte das Konzept eine große Wirkung, der Vorsitzende der deutschen Gartenstadtgesellschaft Hans Kampffmeyer propagierte es unermüdlich landauf landab, 1911 auch in Luxemburg. Das ganzheitliche britische Konzept verkümmerte allerdings bald zur einer Planung bloßer Gartenvorstädte, wenngleich in einigen der frühen daran orientierten Arbeitersiedlungen – so Margaretenhöhe und Altenhof bei Krupp in Essen – wenigstens Wohnen und Freizeit noch stärker integriert wurden. Die Reduzierung des ursprünglichen Gartenstadtkonzeptes auf reine Arbeiterwohnungen fand an der Saar etwa in der Glashütte Fenne ihren Ausdruck. Weithin wirksam wurde vor allem die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, an der sich unter anderem auch Straßburg bei der Suche nach neuen Wohnmöglichkeiten für die von der Altstadtsanierung betroffene ärmere Bevölkerung in seiner neuen Vorstadt Stockfeld orientierte.

In Luxemburg wurde das Konzept teils direkt aus Großbritannien rezipiert, teils über Deutschland; Antoinette Lorang hat das untersucht. So wurde die Darmstädter Landesausstellung 1908 in Luxemburg genau verfolgt. Eine rege Diskussion über die Eignung der Gartenstädte oder wenigstens ihrer Bauformen für die Ardennenlandschaft schloß sich an, Wettbewerbe wurden ausgeschrieben. Das mangelnde soziale Problembewußtsein und Engagement der in Luxemburg tätigen Industriellen verhinderte aber, so Antoinette Lorang, eine weitere Verbreitung.

Eine etwas stärkere Wirkung kam den unmittelbar über den Werkswohnungsbau vermittelten Wohnformen zu. Dazu gehörten kleine Gartenstädte wie die Ehleringer Kolonie in Esch-sur-Alzette, aber auch einfachere Wohnungen. Die Luxemburger Montanbetriebe hingen großteils von deutschem, belgischem und französischem Kapital ab, und manche Firmen brachten ihre gewohnten heimischen Arbeiterwohnungsformen mit nach Luxemburg, so in Esch besonders die Gelsenkirchener Bergwerks AG. Der Arbeiterwohnungsbau blieb, gemessen an den dringenden Bedürfnissen in den fast explosionsartig von beschaulichen Dörfern zu Industriestädten anwachsenden Industriezentren wie in Luxemburg Esch-sur-Alzette oder Dudelange, zwar klein. Dennoch stellen die von Thyssen in Lothringen oder von Gelsenberg in Luxemburg gebauten Siedlungen weitere Beispiele für den grenzüberschreitenden Transfer von Bauformen dar, der in diesem Fall weniger durch Modernisierungsgefälle als durch Kapitalstruktur und unternehmerisches Interesse an der Bindung einer Arbeiterelite an den Betrieb bewirkt wurde. Auf der Ebene der Direktorenhäuser wirkten in der Zwischenkriegszeit zudem – ihrerseits international beeinflusste – Bauformen des Luxemburger Limpertsbergs auf Industriestädtchen wie Esch-sur-Alzette ein. Die Interferenzen von Urbanisierungseinflüssen erfaßten, in im einzelnen unterschiedlicher Motivation und Ausprägung, die Wohnformen aller sozialen Schichten.

 

Gerhild Krebs

Neue Hausformen

Prämienhaus

Auf Anregung des preußischen Bergrates Sello (Saarbrücken) entstand das Prämienhaussystem der preußischen Staatsgruben an der Saar. Mit dessen Hilfe errichteten sich die Arbeiter auf sehr kleinen Parzellen in Eigenarbeit winzige, ein- oder anderthalbgeschossige Häuschen mit zwei bis vier Räumen und einer Wohnfläche von ca. 40–50 m². Die traditionelle bäuerliche Selbstversorgung reduzierte sich unter den neuen Wohnbedingungen im besten Fall auf einen kleinen Garten, eine „Bergmannskuh“ (Ziege), Kaninchen, Tauben oder Hühner in Ställen am Haus. Ähnliche Hilfen zum Wohneigentum erhielten z.B. auch die Hüttenarbeiter bei Stumm. Diese „Prämien“ (Belohnungen), in Wirklichkeit eher eine Art Sparsystem durch Lohnabzug, verbunden mit kleinen Beihilfen, waren gekoppelt an das permanente Wohlverhalten der Arbeiter, d.h. daran, unter keinen Umständen politisch oder gewerkschaftlich tätig zu werden bzw. sich auch nur kritisch gegenüber dem Arbeitgeber zu äußern.

Mietshäuser

Wer sich kein eigenes Haus bauen konnte, war auf die Mietshauskolonien des Bergfiskus und der Unternehmer angewiesen, die besonders ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts errichtet wurden. Die Mietwohnungen ließen nur noch wenig Raum für einen landwirtschaftlichen Nebenerwerb. Damit waren die Arbeiter fast völlig abhängig geworden von der weiteren industriellen Entwicklung und der Lohnpolitik der Arbeitgeber. Solche Häuser errichtete ab 1920 auch die französische Bergwerksverwaltung. Ein Beispiel für eine in sich geschlossene, als Kolonie geplante Ansiedlung ist z.B. der Madenfelder Hof, oder auch die Ansiedlungen in Bildstock.

Direktorenvillen und Beamtenhäuser

Weitere neue Hausformen waren die zeitgleich entstehenden, geräumigeren Häuser der Bergbeamten niedrigen, mittleren und hohen Grades – eine ganze Palette von Häusern bis hin zu Villen mit ansehnlichen Gärten, umrahmt von Zäunen oder Mauern. Diese Häuser orientierten sich an bürgerlicher städtischer Architektur. Steigerhäuser waren beispielsweise zweigeschossig mit bis zu zwei bis vier Räumen pro Geschoß, wobei ein Raum bereits anderthalb bis doppelt so groß war wie ein Raum im Arbeiterhaus. Ähnliche Hausformen und -größen gab es für die Angestellten in Hütten und anderen Unternehmen, teilweise als Kolonie gleichförmiger Zweifamilienhäuser im Falle der niedrigeren Dienstgrade wie z.B. in Esch-sur-Alzette, oder als Einzelhäuser mit Gärten im Falle mittlerer bis hoher Angestellter.

Beispiele für Wohnensembles, die alle hierarchischen Ebenen des Bergbaues umfaßten und in französischer Zeit fortgesetzt wurden, bieten die heute stillgelegten Gruben und Siedlungen in Von der Heydt, Velsen, Göttelborn und Maybach. Die villenartigen Häuser einerseits und die Prämien- und Mietshäuser andererseits brachten städtische Baustile, Gestaltungsmerkmale von Häusern und geplante Siedlungselemente in die Dörfer.

Nach- und Nebenwirkungen der Siedlungspolitik

Diese staatliche und private Siedlungspolitik zementierte die sozialen Unterschiede in architektonischer Form, nicht zuletzt auch durch die Lage und den Abstand der Häuser zum Arbeitsort. Dies ist nicht nur bei den Wohnsiedlungen des preußischen und französischen Bergfiskus im Saarland erkennbar, sondern auch an den von Unternehmern wie Stumm (Neunkirchen und Brebach-Halberg), Röchling (Völklingen-Wehrden) oder de Wendel (Petite Rosselle) errichteten Haus- und Mietshaussiedlungen im Saarland und Lothringen (Thema Industriekultur).

Die sozialen Unterschiede der staatlichen und unternehmerischen Wohnpolitik mögen sich bis heute teilweise abgeschliffen haben, ihre architektonischen Spuren sind aber an vielen Orten im Grenzraum nachvollziehbar. Während die Dörfer der Großregion über Jahrhunderte hinweg nach ihren eigenen Gesetzen gewachsen und erst ab dem 17. Jahrhundert in Lothringen obrigkeitlicher Siedlungsplanung ausgesetzt worden waren, erfolgten die industriellen Neuansiedlungen innerhalb eines siedlungsgeschichtlich sehr kurzen Zeitraums und nur in bestimmten Orten.

 

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Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.