Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
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Gerhild Krebs

Industrie- und Gewerbearchitektur

Es gibt kaum einen Lebensbereich, anhand dessen sich die grenzüberschreitenden Beziehungen innerhalb der Großregion Saar-Lor-Lux so eindringlich darstellen lassen wie an Industrie und Gewerbe. Einfuhrzölle, Grenzverlauf, Infrastruktur (Handelswege und Transportmittel), technische Produktionsstandards sowie der Zugang zu den Rohstoffen und Absatzmärkten bildeten schon in napoleonischer Zeit die Rahmenbedingungen für die industrielle Entwicklung. Hinzu kam die zentrale Frage der Besitzverhältnisse. War z.B. eine Basisindustrie wie der Bergbau staatlich, so hingen davon zahlreiche andere Erwerbszweige ab, und wenn aufgrund politischer Veränderungen ein anderer Staat den Besitz oder die Nutzung an der Kohle hatte, so zog dies nicht nur gravierende Folgen für die jeweilige staatliche Finanzpolitik sowie die anderen Industrien und Gewerbe nach sich, sondern auch für die politischen und sozialen Strukturen. Seit der französischen Revolution hatten Frankreich und Deutschland kontinuierlich ein großes Interesse an den grenznahen Basisindustrien und Bodenschätzen des anderen Landes, die etliche Male jeweils nach den Kriegen und Grenzverschiebungen zur Debatte standen.

Die komplexe historische Entwicklung von Industrie und Gewerbe in der Großregion wird im vorliegenden Kapitel an Beispielen aus verschiedenen Gewerbe- und Industriezweigen gezeigt. Agrarisch orientierte Gewerbe sind mit dem Einzeltext zur Ölmühle Bischmisheim (Saarbrücken-Bischmisheim) vertreten. Für die luxemburgische Geldwirtschaft steht das Gebäude der Sparkasse (Luxemburg-Stadt). Mehrere saarländische Bergwerke, namentlich die Gruben Göttelborn, Luisenthal, Von der Heydt, Friedrichsthal, Ensdorf, Velsen und Warndt sowie das lothringische Bergwerk de Wendel-Vuillemin (Kleinrosseln) sind in Einzeltexten und die Houillères du Bassin de Lorraine (HBL), der staatliche französische Bergbaukonzern, in einem Überblickstext beschrieben.

Die luxemburgischen Erzgruben werden mit dem Text über das Nationale Erzgrubenmuseum Rümelingen (Rumelange) präsentiert. Auf den Erzabbau wird auch im Rahmen der Texte über die Stahlunternehmen immer wieder eingegangen, denen jeweils Überblicks- bzw. Einzeltexte gewidmet sind: ARBED (Luxemburg bzw. Esch), Hütte Aumetz (Nilvange), de Wendel (Hayange), Hüttenwerke Belval/Esch, Hütte Goffontaine (Saarbrücken-Scheidt), Röchling (Völklingen) und Stumm (Neunkirchen). Der Einzeltext zum luxemburgischen Kulturzentrum Al Schmelz (Steinfort) ergänzt auf Gemeindeebene das Beispiel sinnvoller Umnutzung leerstehender Industriegebäude, das auf städtischer Ebene am Beispiel des UNESCO-Weltkulturerbes Alte Völklinger Hütte dargelegt wird.

Die Glasindustrie der Großregion, einst ihr wichtigster Industriezweig, wird mit dem Überblickstext zur Glasmacherfamilie Raspiller sowie mit Einzeltexten zu den Glashütten Fenne (Völklingen) und Meisenthal in Erinnerung gebracht. Für die Keramikindustrie stehen das Unternehmen Villeroy & Boch (Mettlach) und die Fayencerie in Sarreguemines. Für die Schwierigkeiten, mit denen Unternehmen in der Grenzregion zu kämpfen hatten, steht das Beispiel des saarländisch-lothringischen Wirtschaftsimperiums der Familie Adt (Ensheim, Forbach und Pont-à-Mousson), das im frühen 18. Jahrhundert durch die kreative Verarbeitung von Pappmaché groß geworden war und durch Kriege und Grenzverschiebungen bis 1919 zerschlagen wurde. Die Familiengeschichte der Adts und ihr Beitrag zur Stadtentwicklung Forbachs werden in gesonderten Artikeln dargestellt.

Die Arbeiter, die wegen der Verdienstmöglichkeiten an die Standorte der oft sprunghaft wachsenden Unternehmen wanderten, mußten dort auch angesiedelt werden, was wiederum in allen Teilen der Großregion zu Veränderungen in der Stadt- und Landschaftsplanung sowie der Dorfentwicklung führte. Diese Vorgänge werden im Kapitel zur Arbeiterkultur mit verschiedenen Arbeitersiedlungen sowie im Kapitel Dorfentwicklung angesprochen.

Im Text über die Arbeiter- und Beamtensiedlungen von Friedrichsthal wird die Industrie als entscheidender Faktor der Stadtwerdung dargestellt. Weitere Texte zum Thema industrieabhängiger Siedlungs- und Stadtplanung bietet das Kapitel Stadtentwicklung. Dort finden sich auch Hinweise auf die von Industrie, Staat und den Zwängen der Kriegswirtschaft bestimmte Wiederaufbautätigkeit und Landschaftsplanung während der nationalsozialistischen Zeit, wie sie die Siedlung „Dorf im Warndt“ beispielhaft verdeutlicht.

Im Zuge des Strukturwandels ist heute ein neuer wirtschaftspolitischer Druck entstanden, aber dieser Druck betrifft nun die gesamte Grenzregion gleichermaßen und trägt dadurch zur Entstehung einer gemeinsamen Mentalität bei: Das Bewußtsein, daß die staatlichen und wirtschaftlichen Metropolen ihr früheres Interesse an diesem Grenzraum weitgehend verloren haben und daß ein gemeinsam gestalteter Strukturwandel erfolgen muß, wenn die Großregion nicht den Anschluß an die künftige wirtschaftliche Entwicklung Europas verlieren will, führt seit den 1960er Jahren regionale Politiker und Verwaltungsspitzen aus dem Saarland, Lothringen und Luxemburg kontinuierlich zu Gesprächen, Verhandlungen und gemeinsamen Projekten zusammen.

Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser grenzüberschreitenden politisch-administrativen Arbeit ist das europäische Pilotprojekt der Eurozone Saarbrücken-Forbach. Bei der Eurozone handelt es sich um das europaweit erste grenzüberschreitende Gewerbe- und Industriegebiet. Dieses ehrgeizige Projekt, in den frühen 1990er Jahren vom Saarland angestoßen und von Lothringen tatkräftig unterstützt, führte unter anderem zum Abschluß eines binationalen Vertrages zwischen Deutschland und Frankreich, der entscheidende administrative und juristische Hürden auch für künftige Projekte dieser Art beiseite räumt.

Wirtschaftliche und soziale Entwicklung seit der Fürstenzeit

Im 18. Jahrhundert hatte sich im heutigen Grenzraum bereits eine vielseitige Industrie entwickelt, wenngleich noch in bescheidenem Umfang. Dazu zählten private Glashütten und Keramikmanufakturen, aber auch Kohlegruben, Hammerwerke und Eisenhütten.

Frühe Industrialisierungsansätze

Der Holzverbrauch der Eisen- und Glashütten in der Region war hoch, so daß der Brennstoff Holz sehr teuer wurde, noch teurer, als er bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts durch den intensiven Export von Bauholz nach Holland gewesen war. Die Gefahr völliger Abholzung – nicht zuletzt eine Bedrohung ihrer privaten Jagdleidenschaft – veranlaßte die Nassau-Saarbrücker Landesherren auf ihrem Gebiet zu ersten Waldschutzmaßnahmen. Bisher hatte man das Problem des Brennstoffmangels nirgends bewältigt, sondern Hüttenstandorte, an denen der Wald ringsum abgeholzt war, einfach geschlossen und an anderen günstigen Stellen neue Hütten eröffnet. In der Kohle bot sich der gesuchte Ersatzbrennstoff, was zur Intensivierung und schließlich zur Verstaatlichung des Kohlenabbaues führte. Nach der Verstaatlichung aller Bauerngruben durch Fürst Wilhelm Heinrich von Nassau-Saarbrücken im Jahr 1754 vollzog sich die systematische Erschließung der Kohlevorkommen an der Saar als Bestandteil merkantilistischer Wirtschaftspolitik. So wurde die regionale Glas- und Eisenindustrie zum Anstoß für die administrative Erfassung und technische Intensivierung des Kohlenabbaus.

Der Bergbau an der Saar, der vom Fürstentum Nassau-Saarbrücken, von der Reichsgrafschaft von der Leyen und anderen regionalen Landesherrschaften jeweils im Staatsbetrieb geführt wurde, wurde nach Ankunft der Revolutionstruppen (1793) dem französischen Staat zugeschlagen. Andere, private Unternehmen gingen 1793 an private französischen Besitzer über oder wurden in dieser Zeit von französischen oder wallonischen Unternehmern gegründet, so z.B. die Hütte Goffontaine des Wallonen Pierre Gouvy bei Saarbrücken. Ein Teil der Unternehmen blieb in deutschem Besitz, so der St. Ingberter Eisenhammer der Familie von Philipp Heinrich Krämer.

Der Ertrag der saarländischen Kohlengruben sank zwischen 1793 und 1796 wegen schlechter Verwaltung durch unerfahrene französische Inspektoren auf ein Viertel der früheren Erträge. Dies änderte sich 1797, als alle Gruben an das Pariser Unternehmen „Lasalle, Duquesnoy & Cie.“ verpachtet wurden, bekannt unter dem Namen des geschäftsführenden Mitinhabers Jean-Baptiste Equer. 1808 ging die Grubenverwaltung wieder an den französischen Staat über, nur die Grube Großwald bei Püttlingen wurde dem im lothringischen Salzland beheimateten Unternehmen Salines de l’Est zugeschlagen, das Kohle zur Salzgewinnung benötigte.

Unter Napoleon erhielten die Einwohner des Saarraumes die vollen französischen Bürgerrechte und damit volle Gewerbefreiheit. Die Einführung des Code Civil (1804) in den linksrheinischen Gebieten und der Ausbau der Fernstraße nach Mainz als Heerstraße (Kaiserstraße) zwischen 1806 und 1811 förderten die regionale Wirtschaftsentwicklung ganz erheblich. Ab 1810 galt an der Saar der napoleonische „Code des Mines“ als neues Berggesetz. Zusammen mit den Gruben in Dudweiler, Sulzbach und Gersweiler erwirtschaftete St. Ingbert seither die Hälfte der gesamten Jahresförderung an der Saar. Auf Initiative von Napoleon I. unternahmen die Bergingenieure Duhamel, Beaunier und Calmelet 1807 bis 1810 eine Bestandsaufnahme der Saargruben und schufen erstmals einen regionalen Bergbauatlas mit 66 Karten, auf denen die jeweiligen Gemeinden vermerkt und die Grubenanlagen, Abbaugebiete und kommunalen Wälder (wegen des Grubenholzes) eingezeichnet sind. Jean-Baptiste Duhamel, der leitende Bergingenieur der staatlichen französischen Grubenverwaltung an der Saar, favorisierte eine Privatisierung des Bergbaus an der Saar nach französischem Vorbild, wozu es jedoch wegen des Endes der napoleonischen Herrschaft 1815 nicht mehr kam.

Die 18 Saargruben gingen 1816 wieder in preußischen und im Fall von St. Ingbert in bayerischen Staatsbesitz über. Der preußische Staat wurde bald zum weitaus größten Arbeitgeber an der Saar. Nur einige wenige Privatgruben bestanden daneben weiter, so z.B. die seit dem 18. Jahrhundert betriebene Grube der Keramikunternehmer Villeroy in Hostenbach. Die anderen Industrien waren vom preußischen Bergfiskus abhängig, da dieser die Kohle kontrollierte. Hammerwerke, Eisen-, Ruß- und Glashütten sowie die chemischen Werke in Sulzbach und Dudweiler blieben private Unternehmen.

Die Bildung des deutschen Zollvereins 1834, dem sich 1842 auch Luxemburg anschloß, bedeutete für den Handel innerhalb Deutschlands und mit dem nahen Ausland eine entscheidende Verbesserung, da er innerhalb Deutschlands neue Absatzmärkte eröffnete und Zeitverluste durch bisherige Zollstationen der deutschen Staaten auf den Transportwegen entfielen. Die neue Zollordnung stärkte auch die Rolle Saarbrückens im Wirtschaftsleben: Als Standort einer größeren Zollgrenzverwaltung wurde die Stadt erster Anlaufpunkt französischer und letzter Anlaufpunkt deutscher Waren.

Industrielle Verflechtung im Grenzraum

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert setzte die industrielle Revolution ein. Die Erfindung neuer Techniken und Produktionsverfahren, insbesondere der Dampfmaschine, veränderte auch den Kohlenabbau radikal. Der Erfolg der neuen Abbautechnik (Übergang vom Stollen- zum Schachtbau) war wesentlich von der Dampfkraft abhängig: Im Saarbergbau erleichterten dampfgetriebene Pumpen ab 1828/1829 die Wasserhaltung und erlaubten den Übergang zum Tiefbau; so konnten seit 1822–1825 in Hostenbach die ersten deutschen Tiefbauschächte abgeteuft werden. In der Fördertechnik wirkte sich die Dampfkraft ebenfalls revolutionierend aus, weil die Fördergeschwindigkeit erhöht und dadurch die tägliche Fördermenge vervielfacht werden konnte. Auch in den anderen Zweigen der wachsenden Industrie an der Saar war Dampfkraft vielseitig anwendbar. In der Eisenindustrie löste sie beispielsweise als Energielieferant die frühere Nutzung der Wasserkraft ab.

Die Stahlherstellung wurde außerdem durch das aus Großbritannien stammende Puddelverfahren verändert. Dieses Verfahren verkürzte die Produktionszeit von drei Wochen auf anderthalb Tage und erlaubte zugleich statt der immer knapperen und teureren Holzkohle den Einsatz von billiger Kohle bzw. Koks zur Verhüttung. Die verfahrenstechnische Umstellung auf das Puddelverfahren führte dazu, daß die privatwirtschaftlichen Eisenhütten, die sich bisher in den Waldgebieten des nordsaarländischen Schwarzwälder Hochwaldes und des Hunsrücks befunden hatten, diesen Standort nun aufgeben konnten, um sich an den Kohlestandorten im Saarrevier anzusiedeln.

So ließ sich die Unternehmensgruppe der Familie Stumm in Neunkirchen nieder, um dort sowie in Brebach und Dillingen mehrere Hüttenwerke zu gründen bzw. schon bestehende Unternehmen aufzukaufen. Das Haus Stumm etablierte sich neben dem preußischen Bergfiskus als zweiter übermächtiger Arbeitgeber an der Saar und wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum marktführenden Unternehmen nicht nur in der regionalen Eisenindustrie, sondern hatte auch erheblichen reichsweiten und internationalen Einfluß. Diese Machtfülle, die über die eigentliche Eisenindustrie weit hinaus reichte, und die patriarchalisch-autoritäre Betriebsführung in den Stumm’schen Hütten wurden mit dem zeitgenössischen Begriff „Saarabien“ umschrieben.

Das Transportproblem war während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das größte Wachstumshindernis des Saarbergbaus, weil die große Entfernung der Saargruben zum Rhein einen extremen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Bergwerken im Ruhrgebiet darstellte. Daher wurden überall im Saarrevier sogenannte Transportstollen ausgehauen, um die Kohlen zumindest schnell bis zur nächsten Hauptverkehrsstraße oder zur Saar transportieren zu können. Die Transportstollen stellten die Nahtstelle des Bergwerks zur Außenwelt dar und wurden daher mit architektonisch aufwendigen, repräsentativen Mundlöchern versehen. Nach der Ankunft der Eisenbahn im Revier nahm die Bedeutung der Transportstollen rapide ab, was sich architektonisch ebenfalls an den Stollenmundlöchern zeigt: Mundlöcher des frühen 20. Jahrhunderts sind, auch aufgrund eines gleichzeitigen Stilwandels in der Industriearchitektur, nicht mehr überbordend und aufwendig, sondern im sachlich-funktionalen Stil der neuen Zeit gehalten, so beispielsweise das schlichte Mundloch des Alsbach-/Jean-Siegler-Stollens, den die französische Bergwerksverwaltung 1921/1922 in Luisenthal bauen ließ.

Die Eisenbahnlinie zwischen Bexbach und Forbach wurde 1852 eröffnet und verband als letztes Teilstück den Oberrhein mit Lothringen, wodurch Deutschland und Frankreich endlich eine durchgehende Eisenbahnverbindung bekamen. Ihre Eröffnung wurde zum entscheidenden qualitativen Sprung für die Industrie der Großregion. Nun erreichte das industrielle Wachstum eine neue Dimension, denn die Bahnlinie zwischen Bexbach, dem Endpunkt der bayerischen Pfalzbahn, und Forbach, dem Endpunkt der französischen Ostbahn, zog unter anderem die Abteufung weiterer Kohlegruben nach sich, die man daher auch als „Eisenbahngruben“ bezeichnete: Heinitz, Altenwald, Reden, Dudweiler und Von der Heydt. Eine parallele Entwicklung war die Entstehung privater Glashütten in und um Friedrichsthal, die als „Bahnglashütten“ bezeichnet wurden. Weiterhin brachte die Eisenbahn der aufstrebenden urbanen Agglomeration Saarbrücken, St. Johann und Malstatt-Burbach immensen wirtschaftlichen Aufschwung. Ähnlich rasant vollzog sich die Entwicklung in und um das lothringische Forbach. Hier profitierte besonders das Adt-Zweigwerk von der Nähe zur Bahnlinie, das bald zum wichtigsten Werk der Adt-Gruppe wurde und ab 1850 einen entsprechenden Aufschwung in Produktionsausstoß und Arbeiterzahl aufwies.

Im Anschluß an diese erste durchgehende Bahnlinie wurde die Infrastruktur des gesamten heutigen Grenzraumes durch die Eröffnung weiterer Eisenbahnlinien in den folgenden Jahrzehnten deutlich verbessert: zunächst die Saartalbahn nach Trier und von dort nach Luxemburg, dann die Nahebahn nach Bingerbrück, 1870 die Strecke Saarbrücken–Saargemünd–Straßburg. Der Anschluß Saarbrückens 1866 an den Rhein-Marne-Kanal durch den Saar-Kohlen-Kanal unterstützte diese Entwicklung, doch der Saar-Kohlenkanal selbst kam wegen der verzögernden Interventionen Stumms um etliche Jahre zu spät: Die von Stumm favorisierte Eisenbahn setzte sich im Schwerlastverkehr rasch durch. Die Standortentscheidung für den Bau der Burbacher Hütte (Saarbrücken-Burbach) im Jahr 1856 fiel aufgrund des Zusammentreffens von optimaler Rohstoffversorgung, optimaler Transportlage an Fluß und Eisenbahn und reichem Reservoir an billigen Arbeitskräften.

Die Eisenbahn ermöglichte innerhalb der Großregion auch die direkte Verbindung der Erze mit der Kohle: Seit Mitte des Jahrhunderts kauften Industrielle für ihre Unternehmen Konzessionen zum Abbau von Erzen, erwarben Beteiligungen an bestehenden Werken oder gründeten selbst neue Werke jenseits der Grenze. Industrielle der Saar zeigten ab den 1850er und 1860er Jahren Interesse am Minette-Gebiet von Luxemburg und Lothringen, und umgekehrt engagierten sich zur gleichen Zeit erstmals luxemburgische, belgische und lothringische Unternehmer und Kapitalgeber an der Saar. Das Saarbrücker Unternehmen Karcher & Westermann gründete Niederlassungen in Ars-sur-Moselle und Metz. Die Saarbrücker Kaufleute Haldy und Röchling waren ab 1856 Hauptaktionäre der Eisenhütte Pont-à-Mousson, im gleichen Jahr gründeten belgische und luxemburgische Investoren die Burbacher Hütte. Der Neunkircher Unternehmer Carl Ferdinand Stumm investierte zusammen mit dem Luxemburger Norbert Metz in die Escher Erzgruben und erwarb Minenkonzessionen im französischen Montet. Die wachsende Industrie schuf damit auch ihre eigenen Produktionszwänge und internen Wachstumsquellen: Der hohe Bedarf an Eisenbahnschienen und an Kohle für die Lokomotiven diente nicht nur dem Absatz der Produkte der beiden Montanindustriezweige, sondern förderte zugleich seinerseits das schwerindustrielle Wachstum.

Die Erzvorkommen in Luxemburg und Lothringen waren von alters her bekannt. Sie waren um 1820 wiederentdeckt worden und wurden ab den 1850er Jahren industriell erschlossen. Wegen ihres geringen Eisen- und hohen Phosphorgehaltes wurden diese oolithischen Erze abwertend Minette (kleines Erz) genannt, da sie zunächst für die gängigen Stahlproduktionsverfahren nicht geeignet waren. Dies änderte sich erst im letzten Viertel des Jahrhunderts: Norbert Metz, Besitzer der Firma Metz & Co. und Betreiber der Metzeschmelz in Esch-Alzette, war der erste kontinentaleuropäische Lizenznehmer des Thomas-Stahl-Verfahrens, das die Briten Thomas und Gilchrist 1878 entwickelt hatten. Nun ließen sich die Erze der Minette-Region in Lothringen und Luxemburg großindustriell zur Stahlproduktion einsetzen, und die Eisen- und Stahlwerke wurden unabhängiger von den Erzlieferungen der Lahn-Sieg-Region. Kurz nach Merz kauften Stumm (Neunkirchen) und de Wendel (Petite-Rosselle) ebenfalls Thomas-Stahl-Lizenzen. Die Saar-Lor-Lux-Region war damit auf dem Kontinent führend in der Übernahme der neuen Technologie.

Nach der Annexion von Elsaß-Lothringen bildete die Region Saar-Lor-Lux zwar keinen einheitlichen politischen Raum, aber einen zusammenhängenden Wirtschaftsraum. Die Annexion bewirkte einen massiven Vorstoß deutschen Kapitals nach Lothringen, während die französische Seite ihre Position zu halten versuchte. Vielfältige Verflechtungen industrieller und finanzieller Art resultierten daraus. Die Stahlproduzenten auf der saarländischen Seite profitierten von der regionalen Grenzverschiebung, die ihnen den größten Teil der lothringischen Erzvorkommen als nun inländische Bodenschätze zugänglich machte, und erwarben weitere Erzabbaulizenzen im Minette-Gebiet. Die Erze zur Weiterverarbeitung an die Saar zu bringen, war im Zeitalter der Eisenbahn kein Problem mehr, denn Bahnlinien wie z.B. die Verbindung von Merzig über Waldwiese (Waldwisse) nach Diedenhofen (Thionville) dienten vorrangig diesem Zweck und erfüllten zugleich die Funktion strategischer Nebenverbindungen in Richtung des zentralen Militärstandortes Metz.

Somit setzte sich während der Reichslandzeit die Tendenz zur wirtschaftlichen Verflechtung unter erleichterten Bedingungen fort, wurde aber weiter behindert von der neuen deutsch-französischen Grenze in Lothringen, da weder der deutsche noch der französische Staat es gerne sahen, daß die Unternehmer sich beiderseits dieser Grenze betätigten. Dennoch gab es immer wieder grenzüberschreitende Tätigkeiten, so waren Saarunternehmer in den Industriezonen um Longwy und Briey sowie bei Nancy tätig. Die Dillinger Hütte gründete 1886 ein Zweigwerk in Redingen (Redange). Die St. Ingberter Stahlunternehmer Gebr. Krämer fusionierten 1905 mit der luxemburgischen Hochofengesellschaft von Rümelingen (Rumelange), die wiederum Pächter einer Hütte im lothringischen Öttingen (Œting waren). Carl Ferdinand Stumm erwarb Erzkonzessionen bei Longwy und gründete 1891 eine Hütte in Ückingen (Uckange). Die Unternehmer Haldy und Röchling blieben nicht nur in Pont-à-Mousson, sondern verstärkten ihren Einfluß dort noch.

Ähnlich verhielt sich der lothringische Stahlunternehmer de Wendel, dessen Betriebe nun teilweise im Reichsland lagen. De Wendel verstärkte ab 1871 seine Tätigkeiten im lothringischen Kohlerevier und im Orne- und Fentsch-Tal bei Diedenhofen (Thionville). Insbesondere im Fentsch-Tal übte de Wendel großen Einfluß aus; er gründete unter anderem 1881 eine Hütte in Hayingen (Hayange). Die luxemburgische Metz-Gruppe (Esch) fusionierte 1911 mit der luxemburgischen Bergwerks- und Saarbrücker Hüttengesellschaft zur ARBED (Acéries réunies de Burbach, Esch et Dudelange), so daß von nun an die Hütten in Esch-Schifflingen (frühere Metze Schmelz) und Burbach unter einer gemeinsamen luxemburgisch-belgischen Konzernleitung standen.

Investitionen von Kapitalgebern außerhalb der Saar-Lor-Lux-Region erfolgten erst vergleichsweise spät, waren aber insbesondere für Luxemburg und Nordlothringen sehr wichtig. Beispielsweise bestand seit 1904/1905 eine Interessengemeinschaft aus Aachener Hütten-Actien-Verein/Abteilung Rote Erde, Gelsenkirchener Bergwerks AG und Schalker Gruben- und Hüttenverein. Diese drei Unternehmen fusionierten 1907 zum Konsortium der Rhein-Elbe-Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft, damals der zweitgrößte deutsche Kohle- und Stahlproduzent nach Krupp (Essen). Im luxemburgischen Esch waren somit nicht nur die Erzförderung, sondern auch die Eisen- und Stahlproduktion in den Händen auswärtiger Kapitalgeber. In Lothringen gab es seit 1860 belgische Investoren, rheinisch-westfälische Firmen folgten dort erst nach 1890. Im Saarrevier spielten mit Ausnahme der belgischen Kapitalgeber der Burbacher Hütte weitere auswärtige Investoren keine Rolle. Der Sitz der Burbacher Investoren war allerdings Brüssel, und die Buchführung wurde nach französischer Art geführt.

Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierung

Die grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Wandlungen des Industrieraumes Saar-Lor-Lux lassen sich auch an sozialen Daten ablesen, wie die Untersuchung Stefan Leiners zur Binnenwanderung innerhalb der Großregion für den Zeitraum 1850–1910 gezeigt hat. Die mobilste Gruppe der Binnenwanderer war in dieser Zeit männlich, jung (20–25 Jahre) und unverheiratet und als Industriearbeiter tätig. Ledige junge Frauen waren ebenfalls sehr mobil, wurden aber fast ausschließlich im schlecht bezahlten privaten und gewerblichen Dienstleistungssektor beschäftigt. Ledige Männer und Frauen zogen auch am häufigsten um, etwa alle sechs Monate, während Ehepaare und Familien entsprechend seltener den Wohnsitz wechselten – etwa alle drei Jahre.

Je höher qualifiziert der ausgeübte Beruf, d.h. auch je höher das Sozialprestige innerhalb der Bereiche Handwerk und Arbeit, desto mehr Protestanten waren unter den Zuwanderern, desto häufiger kamen die Wanderer aus einer Entfernung zwischen ca. 30 und 80 km und desto wahrscheinlicher war der Zuzug aus einem anderen urban-industriellen Umfeld. Im lothringischen Diedenhofen (Thionville) und im luxemburgischen Esch etablierten sich bis 1910 durch Binnenwanderung protestantische bzw. jüdische Minderheiten. Die weniger qualifizierten, mehrheitlich katholischen Zuwanderer kamen dagegen vorwiegend aus der unmittelbaren Umgebung; beispielsweise wurde ab 1850 innerhalb weniger Jahrzehnte durch sprunghafte Zuwanderung die Bevölkerungsmehrheit in dem verstädterten Doppeldorf Malstatt-Burbach katholisch. Innerhalb einzelner Zuwanderergruppen von Malstatt-Burbach stieg bis 1910 der Anteil der Katholiken unter den Handwerkern und der Anteil der Protestanten unter den Arbeitern, d.h. die ursprünglich deutliche religiöse Trennung der Berufsgruppen und die damit verbundene soziale Schichtung verwischten sich allmählich.

Einen direkten Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Eisenbahnnetzes und dem Wanderungsgeschehen in den drei untersuchten Gemeinden Esch, Diedenhofen (Thionville) und Malstatt-Burbach konnte Leiner nicht feststellen. Die Wanderungsbewegung fand auf jeden Fall nicht als plötzliche, radikale Entwurzelung statt, sondern kam zunächst über private, vor allem familiäre oder dörfliche Kontakte in Gang. Sie war oft zunächst mit saisonaler Mobilität, d.h. zeitweisem Pendeln zwischen Heimatort und städtischem Wohnsitz verbunden und läßt sich so als schrittweises Zugehen auf die städtischen Zentren interpretieren. Orte wie Diedenhofen (Thionville), Esch oder Malstatt-Burbach waren meist nicht die erste Station einer Wanderbewegung, sondern der Zuzug erfolgte oft zuerst z.B. in den Landkreis Saarbrücken und erst dann nach Malstatt-Burbach.

Insgesamt überwiegt für den Saar-Lor-Lux-Raum der Wanderungsaustausch mit dem unmittelbaren Umland der jeweiligen verstädterten/städtischen Siedlung sowie mit den jeweils benachbarten städtischen Zentren (Saarbrücken, Neunkirchen, Trier, Kaiserslautern, Metz, Thionville, Luxemburg). Innerregionale Krisenwanderungen sind feststellbar für die Jahre 1875 und 1890. Grenzen bildeten zu keinem Zeitpunkt zwischen 1850 und 1910 ein grundsätzliches oder schweres Hindernis für Arbeiterwanderungen – weder die deutschen Binnengrenzen noch die nationalen Grenzen nach Frankreich, Belgien oder nach dem wirtschaftlich mit Deutschland verbundenen Luxemburg.

Wer erst einmal in verstädterte oder städtische Siedlungen zog, war auch bereit, von dort aus im Falle einer neuerlichen Abwanderung nun wesentlich größere Entfernungen zu überwinden. Die Fernwanderung zwischen Malstatt-Burbach, Hessen, dem nördlichen Rheinland und Westfalen war stärker als der Bevölkerungsaustausch mit dem Elsaß oder Lothringen. Thionville, Esch und Malstatt-Burbach bildeten wichtige Zwischenstationen der Abwanderung in größere Städte und somit gelegentlich auch Ausgangspunkte für die kontinentale oder gar überseeische Fernwanderung.

Die einzige nennenswerte kontinentale Einwanderergruppe in der Großregion bildeten die Italiener. Sie fanden bis 1914 in Lothringen und Luxemburg vor allem im Erzbergbau Beschäftigung, in kleinerem Umfang auch in der Hüttenindustrie an der Saar. Leiners Befund hinsichtlich der italienischen Zuwanderer ist dahingehend zu ergänzen, daß sie an der Saar vor 1918 auch häufig oder gar ausschließlich im lokalen Baugewerbe tätig waren, wie Untersuchungen der Verfasserin für das Köllertal bei Saarbrücken belegen; einzelne Zuwanderer, die sich politisch engagierten, lassen sich bis 1935 nachweisen. Zu vermuten ist, daß es sich bei den Köllertaler Italienern um Zuwanderer handelte, die auf den Baugewerbebereich auswichen, weil sie in den großen Unternehmen der saarländischen Stahlindustrie keinen Platz fanden.

Leiners Untersuchung bestätigt einmal mehr, daß die wirtschaftliche Verflechtung in der Großregion Saar-Lor-Lux zwischen 1850 und 1910 nicht nur durch Unternehmerkontakte und administrative Maßnahmen bedingt war. Zugleich war die Großregion ein Feld sozialer Vernetzung, innerhalb dessen man nicht gewandert wäre, wenn nicht schon vorher enge soziokulturelle Bezüge bestanden hätten. Die Grenzen wurden von Wanderungswilligen als durchlässig betrachtet und de facto auch so gehandhabt. Wie Leiner feststellen konnte, ergab sich im Saar-Lor-Lux-Raum oft ein gemeinsames Handeln der administrativen Autoritäten, wenn es um die Fremdenpolitik ging. Lokale Reibungspunkte und grenzüberschreitende administrative Probleme entstanden in den eher seltenen Fällen, in denen Zuwanderer in kriminelle Handlungen verwickelt waren oder die lokale Arbeiterschaft um die eigenen Arbeitsplätze fürchtete.

Ein früher Internationalisierungsversuch

Nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich die wirtschaftliche Situation der Saar-Lor-Lux-Region wieder einmal gänzlich verändert dar: Elsaß-Lothringen fiel an Frankreich zurück und ein Teil des Saarraums wurde entsprechend den Bestimmungen des Versailler Vertrages als Saargebiet unter die wirtschaftliche Vorherrschaft Frankreichs gestellt. Die im November 1918 begonnene französische Militärverwaltung der Saar fand im Januar 1920 mit dem Übergang der Regierungsgewalt an die internationale Regierungskommission des Völkerbundes ihr formelles Ende, aber französische Besatzungstruppen blieben bis Ende der 1920er Jahre im Saargebiet stationiert und wurden z.B. während des Bergarbeiterstreiks zwischen Februar und Mai 1923 auch im Interesse des französischen Staates gegen die Streikenden eingesetzt.

Die Wirtschaftsgrenze und ab 1925 auch die Zollgrenze trennten das Industriegebiet an der Saar und sein engeres Wohneinzugsgebiet von Deutschland ab. Die Regierungskommission übte keine direkte politische Herrschaft aus, sondern beschränkte sich als Interimsverwaltung bis 1935 meist auf administrative Maßnahmen. Wo sie dennoch politische Entscheidungen fällte, waren es zumindest bis 1926 oft Entscheidungen zugunsten der Interessen Frankreichs. Der saarländischen Bevölkerung wurden demokratische Rechte auf Landesebene verweigert, lediglich auf Lokal- und Kreisebene hatte sie Wahl- und Selbstverwaltungsrecht, das aber von der Regierungskommission stark eingeschränkt werden konnte. Eine einheimische Legislative war damit faktisch nicht vorhanden, zugleich waren unter den gegebenen Umständen Exekutive und Judikative extrem geschwächt und tendenziell parteilich.

Auf wirtschaftlicher Ebene hatte Frankreich an der Saar weitgehende Freiheiten, da es als Ersatz für die Kriegsschäden an den nordostfranzösischen Kohlengruben das Eigentum an den saarländischen Kohlengruben und die administrative Oberhoheit über die regionale Grubenverwaltung erhalten hatte. Französisches Kapital erhielt eine verstärkte Stellung in der saarländischen Wirtschaft. Die offensichtlichsten Veränderungen fanden im Bergbau statt. Nach einer detaillierten Bestandsaufnahme wurden diejenigen Grubenstandorte an der Saar, die man für modernisierungsfähig hielt, systematisch aus- und umgebaut (weitere Elektrifizierung, Einsatz von Abbauhämmern, Transportbändern, Verstärkung von Fördergerüsten, Einbau neuer Fördermaschinen etc.), während andere Standorte binnen weniger Jahre geschlossen wurden.

Saarländischen Bergleuten drohte Schikane oder gar Entlassung, wenn sie sich nach Auffassung des Arbeitgebers gegen die Interessen Frankreichs verhielten. Als mißliebig in diesem Sinne galt ein Bergmann beispielsweise, wenn er seine Kinder nicht in die französischsprachigen Schulen der Grubenverwaltung schickte. Solche Maßnahmen der staatlichen französischen Grubenverwaltung führten 1923 und 1933–1935 zu massiven Konflikten sowohl zwischen den Bergleuten und der Grubenverwaltung als auch zwischen den Bergleuten untereinander. Soziale und sozialpolitische Konflikte wurden immer häufiger als nationale Auseinandersetzungen betrachtet und geführt. Insbesondere der Abstimmungskampf 1933–1935 zeigte, wie leicht daraus Propagandamaterial für das nationalsozialistische Deutschland zu gewinnen war.

 

Rainer Hudemann

Rückorientierung nach Deutschland

Trotz der französischen Modernisierungsinteressen an der Saar führte die Unsicherheit über die politische Zukunft seit Ende der zwanziger Jahre wieder zu einem Rückgang der Investitionen, die Modernisierung der Montanindustrie verlor an Dynamik und blieb vielfach stehen. Die erzwungene Umorientierung aufgrund der neuen, seit dem 10. Januar 1925 wirksamen Zoll- und Wirtschaftsunion mit Frankreich brachte zugleich an der Saar eine Diversifizierung durch den Aufschwung neuer Firmen und Betriebe auch außerhalb des Montanbereiches. Zwischen 1920 und 1927 entstanden viele neue Unternehmen, die jetzt vermehrt Frauen-Arbeitsplätze anboten und vielfach auch auf dem französischen Absatzmarkt Fuß fassen konnten. Viele von ihnen erwiesen sich allerdings als nicht dauerhaft lebensfähig.

Neue Standortprobleme kamen mit der Rückgliederung der Saar an Deutschland 1935. Die ökonomischen Fragen der Rückgliederung und die Entschädigungen für Frankreich wurden in zwei Abkommen am 3. Dezember 1934 und am 18. Februar 1935 geregelt. Dazu gehörte auch die Fortdauer französischer Anrechte im Warndt für fünf Jahre. Die Autarkiepolitik des „Dritten Reiches“, das sich – wenngleich letztlich gutenteils vergeblich – um den Ausbau einer effizienten Zentralverwaltungswirtschaft bemühte, beschied den Hoffnungen der Saar-Wirtschaft auf eine Fortdauer der Handelsverbindungen mit Frankreich aber nur eine bescheidene Zukunft. Die „Arisierung“ saarländischer Firmen und die Vertreibung, wenn nicht später Ermordung ihrer jüdischen Besitzer trugen, während andere Deutsche davon profitierten, zur Zerschlagung von gewachsenen Handelsverbindungen weiter bei.

So viele deutsche Firmen jetzt auch Beteilungen an der Saar erwarben, so bremste die immer deutlichere Kriegsgefahr doch zugleich Kapitalinvestitionen aus dem Reich. Das einheimische Kapital war nicht stark genug, die Probleme verzögerter Modernisierung und verstärkter Autarkie allein grundlegend zu überwinden. Es waren daher erhebliche Hilfen durch das Reich erforderlich, von Eisenbahn-Präferenztarifen bis zur verordneten Reservierung von Absatzkontingenten vor allem in Süddeutschland. Das verdeckte die strukturellen Probleme ebenso wie die Tatsache, daß die Saar im Krieg zu einer der großen Waffenschmieden des Reiches und zu einem Kern seiner Kriegswirtschaft wurde – allen voran durch das Imperium Hermann Röchlings. Die Verschleierung der tatsächlichen Strukturprobleme der Saar war insofern nur ein weiteres Beispiel für eine Wirtschaftspolitik, die von der Rüstungsproduktion lebte und auch finanzpolitisch mit der geräuschlosen Kriegsfinanzierung letztlich immer mehr ein Kartenhaus darstellte; mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus brach es zusammen.

Nach dem Sieg über Frankreich 1940 legte die extreme Ausbeutung der französischen Wirtschaft für die deutsche Kriegführung und die vor allem seit 1942 intensivierte grausame deutsche Verfolgungspolitik in Frankreich den Grund für langfristig wirksame Rachegedanken gegenüber Deutschland. Daß die eine Kollaboration anstrebende Regierung unter Marschall Pétain dieser Politik vielfach die Hand bot, verstärkte die Probleme innenpolitisch in Frankreich nach 1944 nur noch weiter.

In Lothringen war die Lage für die Bevölkerung noch weit schwieriger, die faktische Annexion wurde schon 1940 ebenso wie im Elsaß nur wenig verschleiert. Die Vertreibung von etwa 100000 Menschen vor allem von Bauernhöfen, die unter deutschen Siedlern dann weitgehend zugrundegewirtschaftet wurden, und die Zwangseinziehungen zur Wehrmacht stehen als Beispiele für Maßnahmen, die über die deutsche Unterdrückung innerhalb Frankreichs noch hinausgingen und schon seit 1940 den Haß aufstauten.

Anders als in Frankreich ging die luxemburgische Regierung ins Exil. Gemessen an der Bevölkerungszahl wurde die Widerstandsbewegung dort eine der stärksten in ganz Europa.

Vom Krieg zur Brücke zwischen Frankreich und Deutschland

Vor diesem Hintergrund erschien weiten Teilen der französischen Öffentlichkeit eine Annexion der Saar nach Kriegsende geradezu selbstverständlich. Tatsächlich aber hütete sich die Regierung – bis Januar 1946 von General de Gaulle geführt – davor, dies zu ihrer offiziellen Politik zu machen. Bis 1957/1959 behielt die Saar politisch ein Autonomie-Statut, das unklar definiert und innerhalb der französischen Verwaltung im einzelnen auch umstritten blieb. Zugleich hoffte man, die Bevölkerung langfristig für Frankreich zu gewinnen. Kernziel Frankreichs an der Saar war die Nutzung der Wirtschaftsressourcen, die jetzt allerdings nicht wie nach 1919 durch die Überführung des ganzen Montansektors in französisches Eigentum gelöst wurde. Aber in der treuhänderischen Verwaltung der Betriebe war Frankreichs Einfluß deshalb keineswegs geringer, denn dahinter stand seine jetzt noch direktere politische Macht als Besatzungsmacht, auch wenn die Militärregierung 1947 von einem Hochkommissariat abgelöst wurde. Die Gruben wurden 1946 unter Zwangsverwaltung gestellt und 1948 mit Treuhandstatus in die französisch geleitete Régie des Mines de la Sarre überführt.

Seit 1945 entwickelte sich eine außerordentlich vielschichtige Politik, deren Facetten sich in manchen Teilen ergänzten, in anderen gegenseitig blockierten. An der Saar war die Ernüchterung nach dem „Dritten Reich“ besonders groß. Zurückgekehrte Emigranten, unter ihnen der 1947 bis 1955 amtierende Ministerpräsident Johannes Hoffmann, hatten wichtige Positionen im neuen Staatswesen inne. Französische Kooperationsangebote fielen hier auf fruchtbaren Boden. Auch in ökonomischer Hinsicht erschien diese Kooperation zunächst vielversprechend.

Frankreich verankerte an der Saar 1947 eine Wirtschafts- und Zollunion, die auch Verfassungsrang erhielt. Das langfristige Statut der Firmen im Montanbereich blieb in vielerlei Hinsicht dennoch unklar, und das auch noch, nachdem die französische Vorherrschaft 1950 und 1953 in einer Serie von Konventionen abgesichert worden war. 1950 erhielt das Saarland Mitwirkungsrechte, 1953 wurden die „Saarbergwerke“ in französisch-saarländischer Parität gegründet.

Die Prioritäten im Wirtschaftsbereich und die schon 1947 durchgeführte Währungsreform brachten dem Wiederaufbau an der Saar zunächst auch viele Vorteile und sie verhinderten Demontagen. Zugleich folgte die Herrschaft im Wirtschaftssektor aber auch französischen Leitungsprinzipien, die insbesondere von deutscher Mitbestimmung nichts hielten und nichts wissen wollten. Die Fehleinschätzung der Betriebskulturen der saarländischen Belegschaften wurde ein wichtiger Grund dafür, daß die Franzosen nun, vor allem in den Augen der Bergleute, die Nachfolge „der Preußen“ antraten, die man im allgemeinen ebensowenig geschätzt hatte. Bald verspielten sie so den politischen Kredit, den sie sich durch den Wiederaufbau und eine (außerhalb des Mitbestimmungssektors) geradezu vorbildliche Sozialpolitik zunächst durchaus zu erwerben schienen.

Seit 1949 wurde in Paris aber intern auch allmählich erkannt, daß der wirtschaftliche Wert der Saar überschätzt worden war. Die Frage der wirtschaftlichen Ergänzung oder Konkurrenz mit Lothringen blieb umstritten. Neue Energieträger begannen sich am Horizont abzuzeichnen. Politisch wurde die Saarfrage zum ernsthaftesten Hindernis für eine engere Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik. Auf sie war Frankreich im sich wandelnden Europa aber angewiesen, und die Kooperation sollte nicht zuletzt auch zur Kontrolle des Nachbarn dienen – etwa durch die Montan-Union seit 1951. All dies trug dazu bei, daß Frankreich das Ergebnis der Volksabstimmung an der Saar am 23. Oktober 1955 sofort akzeptierte: Zwar hatte ein – wiederum unklares – europäisches Statut zur Abstimmung gestanden, das immerhin noch ein Drittel der Stimmen erhielt; doch interpretiert wurde das Ergebnis überall als Bekenntnis der Saarbevölkerung zur Rückkehr zur Bundesrepublik.

Die folgenden Verhandlungen, die aufgrund des Luxemburger Vertrags vom Oktober 1956 zur politischen Rückgliederung am 1. Januar 1957 und zur wirtschaftlichen am 6. Juli 1959 führten, wurden zu einem Musterbeispiel des sorgfältigen bilateralen Interessenausgleichs in einer besonders schwierigen und komplexen Situation. Die Rechte und Leistungen, die Frankreich an der Saar – etwa im Warndt – noch behielt oder z.B. mit der Moselkanalisierung heraushandelte, und die bedeutenden französischen Firmenbeteiligungen unter anderem bei der Dillinger Hütte (heute Usinor-Sacilor) oder Halberg (Pont-à-Mousson/Saint-Gobain) ließen eine Verflechtung zwischen den Ländern fortdauern. Sie wurde im Laufe der Zeit von einem Relikt alter Konflikte zu einem – in doppeltem Sinne – „Kapital“ transnationaler Zusammenarbeit, und das um so mehr, als gerade seit den konfliktreichen Zeiten die – keineswegs kritiklose – Orientierung zum anderen Land zu einem Bestandteil des Alltagslebens geworden war. Die starke Stellung Luxemburgs vor allem mit der ARBED in der Burbacher Hütte rundete die seit dem 19. Jahrhundert entwickelte und ausgebaute Saar-Lor-Lux-Zusammenarbeit – wie man in den 1970er Jahren zu sagen begann – im Dreiländereck weiterhin ab.

Quellen und weiterführende Literatur

Die Betriebssiedlungen einiger der hier behandelten Unternehmen werden im Thema „Arbeiter-, Verbands- und politische Kultur“ dargestellt.

Brunn, Denis, Les entreprises allemandes en Moselle dans la première moitié des années 1930, in: Jeanne-Marie Demarolle (Hg.), Frontières (?) en Europe occidentale et médiane de l’Antiquité à l’an 2000, Metz 2001, S. 431–445.

Gorges, Karl-Heinz, Der christlich geführte Industriebetrieb im 19. Jahrhundert und das Modell Villeroy & Boch, Wiesbaden 1989 (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 60, hg. von Hans Pohl und Wilhelm Treue).

Hannick, Pierre/Muller, Jean-Claude (Hg.), Marcel Bourguignon (1902–1971). L’Ère du fer en Luxembourg (XVe–XIXe siècle), Luxemburg/Arlon 1999.

Leiner, Stefan, Migration und Urbanisierung. Binnenwanderungsbewegungen, räumlicher und sozialer Wandel in den Industriestädten des Saar-Lor-Lux-Raumes 1856–1910, Saarbrücken 1994.

May, Nicole, Wandel der Region Lothringen: Kontinuitäten und Brüche, in: Heiderose Kilper und Dieter Rehfeld (Hg.), Konzern und Region. Zwischen Rückzug und neuer Integration – internationale vergleichende Studien über Montan- und Automobilregionen, Münster 1994, S. 13–60.

Moine, Jean-Marie, Les Barons du Fer, Metz 1989.

Muller, Martine, Douze ans de coopération franco-sarroise dans l’industrie minière 1945–1957, hg. Von der Amicale de l’ancien personnel français des Mines de la Sarre, Paris 1989.

Prêcheur, Claude, La Lorraine sidérurgique, Paris 1959.

Reitel, François, Probleme des Strukturwandels in den Montanregionen Lothringen und Nordfrankreich, in: Hans Heinrich Blotevogel (Hg.), Europäische Regionen im Wandel. Strukturelle Erneuerung, Raumordnung und Regionalpolitik im Europa der Regionen, Dortmund 1991, S. 169–178.

Thomes, Paul, Die Saarwirtschaft nach der Reichsgründung zwischen Boom und Krise, in: Herrmann, Hans-Walter (Hg.), Das Saarrevier zwischen Reichsgründung und Kriegsende (1871–1918). Referate eines Kolloquiums in Dillingen am 29./30. September 1988, Saarbrücken 1990, S. 115–132.

Gilbert Trausch, L’ARBED dans la société luxembourgeoise, Luxemburg 2000.

Wirtschaft zwischen den Grenzen, hg. von der Industrie- und Handelskammer des Saarlandes anläßlich ihres 100jährigen Bestehens 1963/1964, Saarbrücken 1963.

 

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Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.