Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
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Wilfried Busemann

Arbeitskammer des Saarlandes

Fritz-Dobisch-Straße 6–8, Saarbrücken

In der Zeit der saarländischen Autonomie unter französischem Einfluß nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Sozialpolitik zu einem der wichtigsten Felder, auf dem die saarländischen Regierungen unter Johannes Hoffmann sich profilieren konnten. Aktiv von französischer Seite gefördert, wurden hier sozialpolitische Reformen entwickelt, die teilweise – etwa bei der Krankenkassenreform – noch heute ihre Aktualität haben. Sozialversicherung, Kriegsopferversorgung, Wiedergutmachung und vor allem die Familienpolitik waren Felder, auf denen das Saarland in mancherlei Hinsicht der Bundesrepublik voraus war und vielfach deutsche mit französischen Traditionen verband. Während in der eigentlichen französischen Besatzungszone auch die Mitbestimmung zu dieser modernen Sozialpolitik gehörte, war das an der Saar anders: Die französischen Wirtschaftsinteressen verhinderten hier weitgehend eine Arbeitnehmermitbestimmung. Um so größere Bedeutung erhielt die Arbeitskammer als zusätzliche Arbeitnehmervertretung neben den Gewerkschaften, zu denen sie damit allerdings auch von vornherein in ein von Spannungen nicht freies Verhältnis geriet. Ihre Aufgabe wurde die allgemeine Beratung von Arbeitnehmern und die beratende Mitwirkung an der wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzgebung. Damit war ein – wenn auch bescheidener – Ansatz realisiert, der in anderen politischen Zusammenhängen unter dem Stichwort überbetrieblicher Mitbestimmung diskutiert wurde. Die Arbeitskammer wurde in Saarbrücken in der Sophienstraße 6, 7 und 8 angesiedelt, die 1986 in Fritz-Dobisch-Straße umbenannt werden sollte. Fritz Dobisch war Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) an der Saar. Als offener Befürworter des Status Quo musste er nur wenige Wochen nach der Abstimmung 1935 nach Luxemburg emigrieren. Dort wurde er während des Krieges von der Gestapo gefangen gesetzt und im Juli 1941 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet.

Baugeschichte

Die ursprüngliche Bebauung, Wohn- und Geschäftshäuser von 1904 bis 1906, wurde durch Kriegseinwirkung im Zweiten Weltkrieg bis auf die Grundmauern zerstört. Den „Wiederaufbau“ von Nummer 8 und 7 als völlig neues Wohn- und Geschäftshaus begann der Eigentümer G. A. Großklos 1952/1953; das Gebäude Nummer 6 wurde von der Vereinigung der Kriegsbeschädigten des Saarlandes ebenfalls 1952/1953 errichtet. Dort, wo heute der Verwaltungskomplex steht, bezog die Arbeitskammer im Januar 1955 nur ein „Ausweichquartier“. In der damaligen Sophienstraße 8 sollte zunächst nur das Ferienwerk unterkommen, bis die ganze Arbeitskammer, die Handwerkskammer, das Arbeits- und Sozialministerium sowie einige andere entsprechende Einrichtungen in ein gemeinsames „Haus der Arbeit“ einziehen könnten. Nach der Volksabstimmung vom 23.10.1955 wurde dieser Plan aufgegeben, die Arbeitskammer blieb schließlich in der Sophienstraße. Etwa ein Jahr nach dem Einzug zur Miete konnte die Arbeitskammer das Gebäude Nummer 8 erwerben; als ihr 1957/1958 auch der Kauf des Gebäudes Nummer 7 gelang, begann ab März 1958 unter der Planung und Ausführung der Architekten Lorenz Schmidt aus Saarbrücken und Hans Schick aus Sulzbach der Umbau zum Verwaltungsgebäude. Keine fünf Jahre später konnte das von den Kriegsbeschädigten inzwischen an die Kammer verkaufte Haus Nummer 6 durch Umbau des Gesamtkomplexes, wiederum durchgeführt vom Architekten Schmidt, integriert werden. An der Straßenfassade wurden seither nur die üblichen Reparaturarbeiten vorgenommen. 1988 wurden auch im Dachgeschoß Büroräume eingerichtet. 1997 konnte im Hinterhof der Neubau des Gebäudes gefeiert werden, in dem sich unter anderem das Dokumentationszentrum der Kammer befindet. Im Sommer 2000 erfolgte der erste Spatenstich zum Neubau des gegenüberliegenden Eckgebäudes Fritz-Dobisch-Straße/Trierer Straße, wo ein Informations- und Beratungszentrum untergebracht wurde. Das vierstöckige Hauptgebäude ist architekturgeschichtlich ein eher typisches Produkt der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Schmucklos zur Straßenfront, wirkt es betont nüchtern und sachlich, fast schon unauffällig und vermittelt so dem Betrachter das Selbstverständnis der Arbeitskammer: Hier werde nicht protzig repräsentiert, sondern zielstrebig gearbeitet im Sinne der Mitglieder, der saarländischen Arbeiter und Angestellten. Als spezifisch grenzüberschreitende Aufgabe hat die Arbeitskammer seit ihrer Gründung die Betreuung der deutschen und französischen Grenzgänger-Arbeitnehmern durchzuführen. Als Grenzgänger gelten alle Arbeitnehmer und Selbständige, die ihre Berufstätigkeit in einem EU-Mitgliedsstaat ausüben und in einem anderen Mitgliedsstaat wohnen, in den sie in der Regel täglich, mindestens aber einmal wöchentlich zurückkehren. Steuerrechtlich anerkannt als Grenzgänger wird, wer bis zu 30 Kilometer Luftlinie von der Grenze entfernt wohnt und innerhalb der entsprechenden gegenüberliegenden Zone arbeitet. In Frankreich sind dies die Departements Moselle, Bas-Rhin und Haut-Rhin, in Deutschland das gesamte Saarland und die Grenzzonen von Rheinland-Pfalz und Baden Württemberg. Seit Jahrzehnten informiert die Arbeitskammer zweisprachig schriftlich oder in individuellen Beratungsgesprächen französische Grenzgänger über die jeweiligen Bestimmungen der gesetzlichen Sozialversicherung in Deutschland, zum Beispiel über Beitragshöhen, Leistungsansprüche und Rentenrecht, über Krankenversicherung, Leistungs-Ansprüche aus der Pflegeversicherung, Versicherung für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Invaliditäts- und Arbeitslosenversicherung, Kindergeld für berufstätige Grenzgänger und Fortbildungsansprüche. Großes Interesse in den zahlreichen deutsch-französischen Ehen des Grenzraumes findet die Erklärung der Besteuerung des Grenzgängereinkommens, die durch die Besonderheiten des deutsch-französischen Doppelbesteuerungs-Abkommens nicht immer verständlich ist. Noch komplizierter wird die Situation für deutsche Grenzgänger, die in Lothringen wohnen, aber im Saarland arbeiten. Soweit sie in die jeweiligen Funktionen gewählt sind, können Grenzgänger auch an den vielfältigen Beratungen und Schulungen für Betriebs- und Personalräte teilnehmen.

Quellen und weiterführende Literatur

Adreßbücher der Stadt Saarbrücken 1953/1954, 1955, 1958.

Akten des Bauverwaltungsamtes der Landeshauptstadt Saarbrücken für die Sophienstraße 6, 7 und 8.

„Der Arbeitnehmer“, Zeitschrift der Arbeitskammer, 1954 und 1955.

Herrmann, Hans-Christian, Sozialer Besitzstand und gescheiterte Sozialpartnerschaft. Sozialpolitik und Gewerkschaften im Saarland 1945 bis 1955, Saarbrücken 1996.

Hudemann, Rainer, Gewerkschaften und Sozialpolitik an der Saar im deutsch-französischen Spannungsfeld der Nachkriegszeit, in: kooperativ forschen, St. Ingbert 2001, S. 277–282.

 

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Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.