Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
    Druckversion der gesamten Einführung (PDF)    
   

Rainer Hudemann

Saar-Lor-Lux: Vernetzungen in einer europäischen Kernzone

Gliederung
1. Grundlagen der Vernetzung in einer konfliktreichen Region
1.1 Grenzverschiebungen im deutsch-französischen Grenzraum
1.2 Luxemburg: Eigenstaatlichkeit in europäischer Vernetzung
1.3 Interregionale und internationale Überlagerungen
1.4 Vernetzungen und interregionale Identität
2. Muster der Interpretation
2.1 „Grenzüberschreitende Erinnerung“
2.2 Auf der Suche nach Kategorien von Erinnerungsstätten
2.3 Wirkungsfaktoren grenzüberschreitender Vernetzungen
3. Aufbau der Publikation
3.1 Eine Landkarte der Erinnerung
3.2 Zum Gebrauch dieser Präsentation
3.3 Das Team
Weiterführende Literatur

 

2. Muster der Interpretation

2.1 „Grenzüberschreitende Erinnerung“

Anders als in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre werden „Orte der Erinnerung“ hier im ursprünglichen, wörtlichen Sinne verstanden. „Orte“ im Verständnis von Pierre Nora, wie Étienne François und Hagen Schulze sie in ihrem großen Projekt „Deutsche Erinnerungsorte“ weitergeführt haben, bezeichnen alle Ebenen der kollektiven Erinnerung, von Stätten, Denkmälern und Symbolen über prägende historische Ereignisse bis zu Personen, Gesten und Romanen. Bei unserem Streifzug durch eine europäische Kernregion geht es dagegen um äußerlich erkennbare, materielle Stätten in Architektur und Landschaft, in denen sich Spuren der grenzüberschreitenden Strukturen und Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart manifestieren. Im Deutschen läßt sich das mit dem Begriff der „Stätten“ von dem wissenschaftlich inzwischen etwas anders eingebürgerten Begriff der „Orte“ absetzen, im Französischen ist das als einzelner Terminus schwieriger.

Der Anspruch dieses Projektes ist damit zugleich bescheidener und weitergehend. Bescheidener insofern, als manche Schichten kollektiver Erinnerung hier ausgeblendet oder nur gestreift werden; im Sinne der „lieux de mémoire“ von Nora gilt dies für einen erheblichen Teil von ihnen. Weitergehend aber auch, denn es geht um die Loslösung von der nationalen Ebene und um das Auffinden von äußerlich sichtbaren Spuren, welche die vielschichtigen Erfahrungen einer exemplarischen Grenzregion hinterlassen haben. Auch die Folgeprojekte, welche Nora in anderen Ländern wie Dänemark, den Niederlanden, Österreich oder eben Deutschland anregte, gehen – bei allen Definitionsschwierigkeiten angesichts der wechselvollen Geschichte des Kontinents – von staats- oder kulturnationalen Konzepten aus. Über sie hinauszugelangen ist der Kern dieses Unternehmens und der Kriterien für die Auswahl der dargestellten Orte. Daß diese in einem ständigen oder zumindest häufigen Spannungsverhältnis zur nationalen Ebene stehen, ist mit dieser weiteren Dimension untrennbar verbunden – es werden aber auch die Grenzen solcher Verschränkung aufzuzeigen sein.

Erinnerung im Sinne dieses Projektes meint nicht nur die Erinnerung, welche zum heutigen Zeitpunkt in der Bevölkerung präsent ist oder gar als Gedächtnis bewußt gelebt wird. Ganz im Gegenteil: Die Präsentation soll darüber hinaus den Blick gerade auch dafür schärfen, in wie vielfältiger Weise grenzüberschreitende Vernetzungen – im Sinne von Konflikten, Kooperationen, Kontaktzonen und Überlagerungen – im äußeren Bild der Orte und Landschaften sichtbar waren und sind. Damit soll ein Beitrag zur Bewußtmachung der kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Vernetzungen in einer europäischen Kernregion geleistet werden. Nora wies mit Recht darauf hin, daß „lieux de mémoire“ entstehen, wenn „milieux de mémoire“ verschwinden. Das Spannungsverhältnis zwischen noch aktiver Erinnerung und neuem Bewußtmachen möglicher Erinnerung gehört gleichfalls zum Kern unseres Vorhabens.

Erinnerungsstätten werden daher auf drei Ebenen als solche verstanden:

• Stätten, die – meist zu bestimmten Epochen – Ort eines Geschehens waren, welches für die Grenzraumlage charakteristisch ist.

• Stätten, die bewusst – meist durch ihre Architektur – dazu bestimmt wurden, die Verflechtungen und Gegensätze der Grenzlage zu verkörpern.

• Stätten, auf denen für die Grenzraumlage charakteristische Aktivitäten ausgeübt wurden oder deren Entwicklung durch die Grenzlage besonders beeinflußt wurde, ohne daß dies zu ihrem „Programm“ und ihrer Bestimmung gehörte.

Anders gewendet: Orte werden hier nicht nur im Sinne aktiven, aktuellen Gedächtnisses verstanden, sondern auch als Zeugnisse, die zum Auslöser aktiver Erinnerung werden können, aber nicht müssen. Vergessen ist ein integraler Bestandteil des Gesamtkomplexes Erinnerung. Vergessen kann den Wandel der Erinnerungsformen spiegeln. Bewußtes Vergessen kann, gerade in einem so konfliktreichen Grenzraum, auch ein Instrument der Abgrenzung vom andern sein und insofern die Vielschichtigkeit des Spannungsverhältnisses zwischen Partnern oder – wie auch immer zusammengesetzten – Gruppen erst recht repräsentieren.

Gedächtnis und Erinnerung können sich an vielen Orten erst dann aktivieren, wenn man diese Orte zu „entziffern“ versteht. Grenzüberschreitende Bezüge des äußeren Erscheinungsbildes der Städte oder der Arbeitersiedlungen im Grenzraum erschließen sich nur selten so spontan wie ein Kriegerdenkmal, zumeist setzen sie die Kenntnis komplexerer Zusammenhänge der Urbanisierungsmodelle in Europa oder der Geschichte des Wohnungswesens voraus. Zur Entdeckung solcher Spuren sollen die hier vorgestellten Beispiele anregen, zur Schärfung des Sinnes für das Erkennen der oft verborgenen Vielschichtigkeit im äußeren Erscheinungsbild der Region.

Auch Kriegerdenkmäler erschließen sich „spontan“ jedoch nur scheinbar – ebenso wie viele andere Denkmäler. Das ist im nationalen Rahmen, oder auch deutsch-französisch vergleichend wie durch Charlotte Tacke, in den letzten Jahren breit erforscht worden. In einer Grenzregion kommen jedoch noch zusätzliche Dimensionen hinzu. Auf grenzüberschreitende Konflikte weisen Kriegerdenkmäler zwar offensichtlich hin. Doch ihre Deutung kann gleichfalls im einzelnen kompliziert sein, und zwar gerade im Grenzraum. Die Inschrift „Aux enfants de...“ auf den Kriegerdenkmälern so vieler lothringischer Orte entfaltet ihre ganze Dramatik nicht aus dem Denkmal selbst heraus, sondern erst wenn man weiß, daß die Gefallenen auf entgegengesetzten Seiten gekämpft hatten und man ihrer deshalb nicht gemeinsam als „Morts pour la patrie“ gedenken kann. Der grimmige „deutsche“ Krieger am Metzer Hauptbahnhof kann „deutsch“ aggressiv und „französisch“ verteidigend interpretiert werden. Kennt man die Etappen seiner Geschichte seit 1908, so wird diese Roland-Statue darüber hinaus geradezu zu einer Art Modellfall der Überlagerung von unterschiedlichen Interpretationen, Erfahrungen und wechselnden Herrschaften in der Region. Ambivalenzen schlummern auch in scheinbar leicht und offensichtlich „lesbaren“ Denkmälern überall, und sie sind ihrerseits ein direkter Ausdruck der Vielschichtigkeit des Daseins in dem so oft umkämpften Land, das zugleich immer wieder Brückenfunktionen entwickelte. In etwas anderem Zusammenhang hat Freddy Raphaël den Begriff der „mémoire plurielle de l'Alsace“ geprägt: Er trifft den Kern der Problematik.

Erinnerung ist ständigem Wandel unterworfen. Gegenstände und Orte können zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedliche Inhalte verkörpern. Sie können das auch zur selben Zeit für – zumal national – unterschiedliche Gruppen. Die ideologische Interpretation deutscher und lothringischer Bauernhausformen erfolgte nach 1918 auf beiden Seiten völlig gegensätzlich. Der Metzer Bahnhof blieb fast ein Jahrhundert lang für die meisten eingesessenen Metzer ein Symbol deutscher Annexionsherrschaft der Reichslandzeit; er war dagegen für viele Alt-Deutsche der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg als Modernisierungskern der Region ein Symbol traditionsreicher historischer Verbundenheit mit Lothringen. In der durch die französische Denkmalpflege geförderten Historisierung seit etwa 1980 wandelte er sich auch zum Symbol deutsch-französischer wechselseitiger Einflüsse. Gerade dann, wenn sie als gegensätzlich gelebt wurden, konnten Erinnerungsmuster wie auch Verweigerungen einer Erinnerung emotional besonders stark aufgeladen werden.

2.2 Auf der Suche nach Kategorien von Erinnerungsstätten

In der Materialsammlung für dieses Projekt ging es zunächst darum, Orte aufzuspüren, in denen sich grenzüberschreitende Zusammenhänge widerspiegeln. Die neun Kapitel dieser Präsentation sind nicht nach theoretischen Kategorien gestaltet, sondern nach funktionalen, am derzeitigen oder ehemaligen Gebrauch oder der Zweckbestimmung orientierten Kategorien von Stätten, die sich im praktischen, aktuellen Leben aufspüren lassen.

Einleitend sei hier dennoch versucht, einige systematisch orientierte Querstreben in die Vielfalt der Objekte zu ziehen.

Da dieses Projekt sich von dem nationalen Rahmen der meisten bisherigen Untersuchungen zu den „Lieux de mémoire“ lösen will, betritt es auch insofern Neuland, als viele der in der intensiven wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre bewährten Begriffe und Kategorien hier nicht greifen, denn sie orientieren sich oft an anderen Fragestellungen.

Unter den jüngeren wissenschaftlichen Kategorisierungsangeboten leistet die von Aleida Assmann vorgeschlagene Klassifizierung der Erinnerungsorte hier gute Dienste. Befragen wir sie auf ihre Tragfähigkeit und heuristische Ergiebigkeit für unsere Fragestellung. Dabei sei, da auch Assmanns Fragestellung gutenteils nicht die unsrige ist, von ihren Definitionen im Interesse der Sachinterpretation im einzelnen ein wenig abgewichen oder ihr Spektrum jeweils erweitert, denn es geht hier primär nicht um ihr Konzept, sondern um die Strukturierung unseres Materials mit seiner Hilfe.

• Generationenorte, an denen die individuelle Erinnerung einer Familie sich über lange, mehrere Generationen erfassende Zeiträume festmachen konnte und kann, sind in unserem Fall selten. Im Gegenteil – grenzüberschreitende Erinnerungen oder Erinnerungssplitter sind eher mit Wanderung, mit freiwilligem oder erzwungenem Umzug, gar mit Vertreibung oder Evakuierung wie 1871, 1919 und mehrfach im Zweiten Weltkrieg verbunden. Im Wirtschaftsbereich gilt das – wenn man den Begriff über Assmanns Verständnis als Ort des Familienlebens hinaus ausdehnt – für die alte Glasmachertradition etwa der Familie Raspiller, die aus ökonomischen Gründen vielfachen Ortswechsel mit sich bringen konnte. Es gilt für die Diversifizierung der Wirtschaftsstandorte, in deren Zuge der Ursprung eines Unternehmens nicht auf lange Sicht sein Hauptort bleiben mußte und Generationengedächtnis sich über die Jahrzehnte an wechselnden oder auch an mehreren Orten zugleich festmachen konnte. Wachstum eines Unternehmens und Wahrnehmung neuer Chancen waren meist die Gründe dafür, etwa bei Stumms Weg vom Hunsrück an die Saar. Grenzwechsel wie nach 1871 zwischen Deutschland und Frankreich und faktische Annexionen wie 1940 konnten zusätzlich nationale Wechsel am gleichen Ort mit sich bringen. Die Industriellen-Dynastie de Wendel wurde dadurch besonders geprägt. Dagegen kann sich in Arbeiterfamilien an denselben Orten insofern ein Generationengedächtnis widerspiegeln, als viele von ihnen über mehrere Generationen hinweg im gleichen Unternehmen Arbeit fanden – das ist dann aber auch nur bei Grenzverschiebungen ein „grenzüberschreitendes“ Gedächtnis, in der Regel bleibt es an das Arbeitsleben an einem Ort gebunden.

• Heilige Orte, die hier unter Sakralarchitektur beschrieben werden, gehören dagegen seit alters zu den Stätten, an denen nationale Grenzen eine vergleichsweise geringere Rolle spielten. Das mußte nicht so sein, wie 1934 die im Vorfeld der Saarabstimmung von 1935 als nationaler Sammlungsort inszenierte Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt zeigte. Aber es konnte so sein, wenn man weniger politisierte Pilgerströme verfolgt oder die geradezu multifunktionale Entwicklung einer Stätte wie Oranna/Berus vom mittelalterlichen Wallfahrtsort über den nationalistisch konnotierten Hindenburg-Turm der Zwischenkriegszeit bis zum Europa-Monument der Nachkriegszeit beobachtet.

• Gedenkorte stehen unserer Fragestellung – so scheint es zumindest – am nächsten. Während Generationenorte eine Kontinuität des Lebens und der Erfahrung an einem Ort verkörpern, sind Gedenkorte in Assmanns Verständnis im Gegenteil der Ausdruck des Abbruchs einer Tradition, die als Überrest oder als neu geschaffenes Gedenk-Monument an diesem Ort erstarrt ist und von sich aus nicht weiterlebt. Sie muß durch Sprache, durch Erzählen und durch Erklärung von vergangener Erfahrung erst wieder lebendig gemacht werden. Gedenkorte erfassen daher nur einen Teil, und den geringeren Teil, der Spuren grenzüberschreitender Erinnerung im Sinne dieses Streifzuges. Auf einer neuen Ebene kann die Rückbesinnung auf solche Traditionen allerdings Strukturen sichtbar machen, die in der Gegenwart unbewußt sein mögen, und ihnen dadurch – überhaupt erst oder verstärkt – Wirksamkeit verleihen. Assmann unterscheidet Gräber, in denen der Tote präsent bleibt, von Gedächtnisorten, von denen die einstigen Handlungen abwesend sind. Gräber gehören zu unseren Stätten. Doch ist für die Frage nach den grenzüberschreitenden Vernetzungen die Trennung von den Gedächtnisorten systematisch weniger ergiebig, Gräber werden diesen also zugerechnet.

• Zu Ruinen werden Gedenkorte, wenn sie von ihrem Kontext getrennt werden und als zusammenhanglose Überreste stehenbleiben, „in eine fremd gewordene Welt hineinragen“, wie Aleida Assmann sagt. Damit ist die Gewichtung eines Ortes als Ruine oder als Gedächtnisort aber eine Sache des Betrachters. Für das kollektive Bewußtsein im Saarland war das nationalsozialistische Polizeilager Neue Bremm jahrzehntelang eine vergessene oder zu vergessende „Ruine“, für die ehemaligen Gefangenen, ihre Familien und Freunde und die Repräsentanten der Opfer ein Gedächtnisort. Verfallende Fabrikgebäude wie die Glashütte Fenne sind auf dem Weg dazu, zur Ruine zu werden, sie lassen sich aber durch Information vielleicht wieder zu einem Stück Traditionsbewußtsein machen.

• An traumatischen Orten ist diese Region reich. Und damit an Stätten, an denen Erinnerung nach Ansicht vieler gerade nicht gelebt werden soll. Wieder kann das je nach betroffener Gruppe zu gegensätzlichen Ausprägungen führen. Orte können Zentren der Erinnerung für die einen sein, während sie für die anderen keine Rolle spielen – oder keine Rolle spielen sollen. Das Lager Neue Bremm erfuhr vom Kriegsende bis in die späten siebziger Jahre dieses Schicksal, und nach wie vor ist der Weg zu einer „gültigen“ Gestaltung des Ortes als Gedenkstätte sehr schwierig. Opfer gehen mit einem solchen Trauma naturgemäß völlig anders um als das Volk der Täter – wobei hier schon Begriffe benutzt werden, welche der Komplexität der Lager-Realität unter dem Nationalsozialismus tatsächlich nicht immer gerecht werden. Beispiele für solche Stätten der nationalsozialistischen Herrschaft und des nationalsozialistischen Terrors sind in Lothringen und Luxemburg zahlreich, vom Gestapo-Sitz in der Villa Pauly in Luxemburg bis zum SS-Sonderlager im Fort Queuleu in Metz. Und doch beschränkt sich die Schwierigkeit des Umganges mit dem Erbe in dieser von immer neuen Grenzverschiebungen geprägten Region noch heute nicht auf die nationalsozialistische Zeit. Sogar die ehemalige Glashütte Meisenthal im Pays de Bitche und der Art nouveau der École de Nancy spiegeln bis heute die Traumata der Rückgliederung Lothringens 1918: Erst in einer Jubiläumsausstellung zu diesem Zentrum des französischen Jugendstils wurde es im Jahre 1999 möglich zu zeigen, daß ein bedeutender Teil der Werke von Émile Gallé, einem der wichtigsten Künstler des Art nouveau in Nancy, im damals deutschen Meisenthal produziert worden war. Über ein Jahrhundert hatte man darüber geschwiegen. Erst jetzt konnte eine aktive, in deutsch-französischer Kooperation umgeprägte Erinnerung in die alten Produktionsstätten im Pays de Bitche hineingetragen werden. Traumata verbergen – oder offenbaren – sich also wiederum auch an Orten, an denen sie keineswegs offensichtlich zu erwarten sind. Die beherrschende Erinnerung an die nationalsozialistische Zeit kann andere Traumata verdecken, welche im Untergrund weiterschwelen und Jahrzehnte später erneut ihre Aktualität zu zeigen vermögen – dann aber in einem Kontext, der sich grundlegend verändert hat.

Assmanns Kategorien erlauben – gelegentlich etwas weiter gefasst – die Systematisierung einer Vielzahl von Problemen, die unsere Objektauswahl durchzieht. Doch greifen manche Orte, in denen sich die grenzüberschreitenden Vernetzungen und Gegensätze zeigen, über diese Kategorien hinaus. Mit dem Begriff der Spuren lassen sich einige weitere Kategorien erfassen, die sich mit den bereits genannten teilweise überschneiden, aber weitere Perspektiven eröffnen.

• Spuren der Vernetzung erfassen eine große Zahl von Objekten, die von Kategorien bewußter Erinnerung auf den ersten Blick weit entfernt sein können. Etwa im weiten Feld der Städtebau- und Architekturkonzepte und der Arbeitersiedlungen sind sie vielfach lebendig.

• Spuren der Grenzüberschreitung unterscheiden sich von Spuren der Vernetzung darin, daß sie einen aktiveren Willen zur Überwindung der Grenze widerspiegeln und gesteuerten Prozessen unterliegen.

Die hier vorgeschlagenen Typisierungsmöglichkeiten durchziehen die Objekte dieser Präsentation schon deshalb, weil je nach Epoche, nach Fragestellung, nach Standpunkt des Betrachters unterschiedliche Kategorien für dieselben Objekte greifen können. Gerade darin wird erneut die Vielfalt und Komplexität dieses Raumes deutlich, die wir hier zeigen wollen.

2.3 Wirkungsfaktoren grenzüberschreitender Vernetzungen

Die Vielschichtigkeit der Erinnerungs- und Vergessensmuster beruht auf der Komplexität der Vernetzungsstrukturen, deren Grundlagen thesenhaft zusammenfassend skizziert seien:

1. Nationale Muster: Nationale Kategorien beherrschen die „kollektive Erinnerung“ und die Vernetzungsprozesse in einem so konfliktreichen, durch nationale Grenzen geprägten Raum wie der Saar-Lor-Lux-Region nicht allein, auch wenn die Herausbildung anderer Muster oft in Auseinandersetzung mit ihnen erfolgte. Das ist um so überraschender, als die nationalen Konflikte gerade hier eine Überspitzung von nationalen Prägungen erwarten ließen.

2. Grenzraummuster: Nach Phasen und Regionen verlief die Konfrontation nationaler Leitbilder und Normen unterschiedlich. Sie führte ebenso zu Abgrenzungen und Abschottungen wie zu Transfervorgängen, Überlagerungen, Verflechtungen, Vernetzungen und Aneignungsprozessen. Diese konnten bewußt verlaufen oder auch so unbewußt, daß die Herkunft ihrer Komponenten aus nationalen Zusammenhängen zunächst verdrängt wurde und später in Vergessenheit geriet.

3. Nationalstaatsbildung: In Luxemburg charakterisierte die Aufnahme unterschiedlicher Einflüsse aus benachbarten Nationen die spezifische Form der Nationalstaatsbildung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Umgekehrt suchte die Identität des Landes sich in ostentativer Abgrenzung von solchen Einflüssen zu festigen. Die Entstehung des Nationalstaates führt in Luxemburg daher selbst auf die Spuren der nationsübergreifenden Prägungen und der Komplexität ihrer Strukturen.

4. Regionales Traditionsbewusstsein: Die im Vergleich zu Luxemburg ganz andere Prägung des deutsch-französischen Grenzraumes während der Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts bewirkte auch andere Formen von Abschottungs- und Überlagerungsprozessen. Vor allem im Elsaß und, verhaltener, in Lothringen konnte dabei die Rückbesinnung auf regionale Traditionsmuster im Interesse eigener Entwicklungschancen zwischen den großen Nationen zum Kern von Transfer-, Angleichungs- und Aneignungsvorgängen werden. Umgekehrt konnten Transfervorgänge weitere Ansätze zu einem Regionalbewußtsein hervorrufen und entwickeln.

5. Herrschaft: Politische Dominanz war ein wichtiger, jedoch nicht zu überschätzender Faktor. Die Übertragung und Verflechtung nationaler Leitbilder innerhalb des Grenzraumes beruhte oft nicht auf Herrschaftsentscheidungen, sondern auf subtileren Mechanismen – und das verlieh und verleiht ihnen einen Teil ihrer langfristig prägenden Wirksamkeit.

6. Modernisierungsgefälle: Manche modernen Steuerungs- und Entwicklungsprofile wurden im Deutschen Kaiserreich mit seinem hohen Bevölkerungs- und Industrialisierungsdruck rascher ausgebildet als in Frankreich und in Luxemburg. 1871–1918 griff man sie in Elsaß-Lothringen oft weniger aufgrund als trotz der Annexionsbedingungen auf, die grundsätzlich eher Abwehrreaktionen hätten erwarten lassen. In Luxemburg verstärkten sie die Transferkomponente im Nationsbildungsprozeß. Solche Modernisierungsgefälle gehören zu den wirkungsvollsten Transferfaktoren.

7. Kommunikationsstrukturen: Sie wirken einerseits offensichtlich über Kommunikationswege im Sinne von Straßen, Bahnen, Kanälen, Brücken. Ihre Ausprägung ist aber komplexer. So konstituierten sich in Groß-, Mittel- und Kleinstädten im ausgehenden 19. Jahrhundert allmählich Kommunikationszirkel von Fachleuten und Notabeln, die zunehmend nach Sach-, nicht nach nationalen Gesichtspunkten diskutierten und entschieden. Sie wurden, wenngleich topographisch schwer faßbar, zu einer Art Transmissionsriemen für die Wirkung von Modernisierungsgefällen. In ihrem Rahmen konnten auch nationalpolitisch, antimodernistisch oder anders motivierte Protestpotentiale kanalisiert und neue gemeinsame, identitätsstiftende Energien freigesetzt werden.

8. Bürgerliche Gesellschaft: Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Normen und Zielvorstellungen hing eng zusammen mit dem Wirkungspotential urbaner und technischer Modernisierung, die als gesellschaftliches Steuerungsinstrument und als Ordnungsmittel gegen die „classes dangereuses“ genutzt werden konnte. Wenngleich auch solche sozialgeschichtlichen Entwicklungen in einzelnen Ländern zum Teil unterschiedlich und phasenverschoben verliefen, trugen sie im Alltag der Region grenzüberschreitend zur Reduzierung des Gewichtes politischer und nationaler Vorgaben bei.

9. Mittler zwischen den Nationen: Personelle und topographische Kristallisationspunkte der grenzüberschreitenden Kooperation konnten über den Grenzraum hinaus ihrerseits zu Transmissionsriemen für die Diffusion von selbst übernommenen, ursprünglich in nationalem Rahmen geprägte Normen, Leitbilder und Handlungsstrategien auf der jeweils anderen nationalen Seite werden. Je nach den Konjunkturen der Gegensätze auf nationaler Ebene, welche Kommunikationsstrukturen weit stärker beeinflussen als unbewußte Überlagerungsprozesse, und je nach der Beharrungskraft nationaler Systeme waren solchen Funktionen einer Grenzregion allerdings Grenzen gezogen.

10. Konflikt und Vernetzung: Die vielfältigen Überlagerungsmuster, welche in der Region Saar-Lor-Lux in den letzten beiden Jahrhunderten entstanden, entwickelten eine beträchtliche Beharrungskraft. Viele von ihnen gingen aus konfliktreichen Zeiten und Konstellationen hervor. Gerade sie können tatsächlich aber eine Fülle tiefer liegender Strukturen hervorbringen, die sich langfristig zu mehr oder weniger intensiven, aber dauerhaften grenzüberschreitenden Vernetzungen entwickeln. Auf einer neuen Ebene können Regionen, welche über die Erfahrung der Komplexität solcher Überlagerungen verfügen, damit auch Brückenfunktionen zwischen ihren Ländern übernehmen.

Die hier skizzierten Wirkungsfaktoren entsprechen in der Regel natürlich nicht einzelnen Erinnerungsstätten. Vielmehr repräsentieren Stätten häufig mehrere Faktoren, gleichzeitig oder phasenversetzt. Eine solche Typologie der Wirkungsfaktoren zieht sich daher durch den gesamten hier erschlossenen Bestand von Stätten hindurch. >> Fortsetzung des Textes (Teil 3)

 

Gliederung
1. Grundlagen der Vernetzung in einer konfliktreichen Region
1.1 Grenzverschiebungen im deutsch-französischen Grenzraum
1.2 Luxemburg: Eigenstaatlichkeit in europäischer Vernetzung
1.3 Interregionale und internationale Überlagerungen
1.4 Vernetzungen und interregionale Identität
2. Muster der Interpretation
2.1 „Grenzüberschreitende Erinnerung“
2.2 Auf der Suche nach Kategorien von Erinnerungsstätten
2.3 Wirkungsfaktoren grenzüberschreitender Vernetzungen
3. Aufbau der Publikation
3.1 Eine Landkarte der Erinnerung
3.2 Zum Gebrauch dieser Präsentation
3.3 Das Team
Weiterführende Literatur

 

>> zurück zum Seitenanfang

   
   
   
Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.