Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
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Tomke Lask/Gerhild Krebs

Leidingen/Wallerfangen und Leiding-lès-Bouzonville

Baugeschichte

Auf den ersten Blick bietet die kleine dörfliche Siedlung Leidingen/Leiding auf dem Saargau den heutigen Besuchern als einzig Auffälliges die „Neutrale Straße“ bzw. „Rue de la Frontière“ nahe dem westlichen Siedlungsrand, wo die deutsch-französische Staatsgrenze durch die Straßenmitte verläuft und das Dorf in einen kleineren französischen und den größeren deutschen Teil teilt. Das fränkische Dorf Leidingen wurde erstmals 893 urkundlich erwähnt. Während des Mittelalters lag die politische Herrschaft Leidingens beim Herzogtum Lothringen und die Grundherrschaft beim Kloster Bouzonville. Heute erinnert an diese Zugehörigkeit ein auf der deutschen Seite der Grenze gelegener ehemaliger Klosterhof, der sogenannte Grenzhof. Im Jahre 1030 schlossen sich Leidingen, Schrecklingen, Heiningen und Sermlingen (letzteres wurde im Dreißigjährigen Krieg zerstört) zu einer Gemeinde zusammen, deren Mittelpunkt die Leidinger Pfarrkirche und später die Schule wurden. Ergänzend zum Zweiten Pariser Frieden (1815) wurde im Zuge der nachträglichen Grenzregulierung zwischen Preußen und Frankreich (1829) die jahrhundertealte Kirchengemeinde Leidingen endgültig aufgeteilt: Das Dorf Leidingen wurde preußisch, während die Dörfer Heiningen und Schrecklingen Frankreich zugesprochen wurden. Tatsächlich wurde damit aber weder das religiöse noch das soziale Leben getrennt, da sich die ehemalige Gemeinde über die neue nationalstaatliche Logik hinwegsetzte und an ihren Lebensgewohnheiten festhielt. Die alte Pfarrgemeinde widerstand lange Zeit dem nationalen Anpassungsdruck. Der Wunsch, weiterhin eine Einheit zu bilden, wurde auch dadurch zum Ausdruck gebracht, daß nach 1829 auf französischer Seite demonstrativ die ersten Häuser so nah an die Grenze gebaut wurden, daß heute der Eindruck entsteht, Leidingen/Leiding wäre immer ein Dorf „auf der Grenze“ gewesen. Heiningen und Schrecklingen gehörten weiterhin zur Kirchengemeinde Leidingen. Die Einwirkungen der neuen Grenze auf das Leben der Pfarrgemeinde suchte man durch Vereinbarungen (27. Februar 1838 und 14. März 1841) zu beheben. Diese auf Zusammenhalt ausgerichtete Haltung der Gemeindemitglieder wurde durch die komplizierten transnationalen Besitzverhältnisse von Feldern und Wald verstärkt. Erst 1933 begann mit einer kirchlichen Baumaßnahme ein Prozeß innerer Trennung zwischen den Dörfern der alten Kirchengemeinde, als die Dörfer Schrecklingen (Schreckling) und Heiningen (Heining) den Bau einer eigenen Pfarrkirche beschlossen, der umgehend durchgeführt wurde. Am 15. Mai 1939 wurde im französischen Siedlungsteil Leiding die neue Kirche eingeweiht.

Regionalhistorischer Kontext

Der französisch-preußische Regulierungsvertrag von 1829 erklärte in den Artikeln VI bis VIII jeglichen transnationalen Landbesitz zu Privateigentum, was spätere Enteignungen unmöglich machen sollte. Personen, deren Land durch die Grenze geteilt wurde, erhielten rechtlichen Anspruch auf uneingeschränkte Nutzung und steuerfreie Überführung ihrer dort produzierten Rohprodukte. Auch denjenigen, die Land im Umkreis von fünf Kilometern auf der anderen Seite der Grenze besaßen, wurde das volle Eigentumsrecht zugesprochen. Sie sollten jedoch Steuern und Zoll gemäß dem Land entrichten, wo ihr Besitz lag. Eine schriftliche Erklärung genügte, um den Anspruch der Besitzer offiziell zu sichern. Wie jede juristische Regelung bot auch diese den jeweiligen Staatsvertretern beiderseits der Grenze viele Gelegenheiten, um den Betroffenen systematisch Schwierigkeiten bei der Grenzüberschreitung zu machen. Besonders das Besitzrecht am sogenannten Dennenwald gab häufig Anlaß zu Provokationen. Nach mündlicher Überlieferung hatte der Herzog von Lothringen nach dem Dreißigjährigen Krieg den Leidingern das Waldstück geschenkt, um der Gemeinde wirtschaftlich wieder auf die Beine zu helfen. Dieser Wald befand sich nach der Grenzbereinigung auf französischem Territorium, konnte aber auf Grund seiner ambivalenten juristischen Besitzlage – prinzipiell Gemeinschaftsbesitz, aber durch den Vertrag von 1829 zu Privateigentum geworden – weder enteignet noch nationalisiert, d.h. nur den nunmehr französischen Bürgern zugesprochen werden. Nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg wurde der Leidinger Wald von Frankreich zwangsverwaltet. Die französischen Verwaltungsmaßnahmen riefen bei den deutschen Besitzern starke anti-französische Gefühle hervor. 1933 wurde in Schreckling/Schrecklingen und Heining/Heiningen mit dem Beschluß über den Bau einer eigenen Pfarrkirche die kirchliche und damit letztlich soziale Trennung von Leidingen/Leiding forciert, obwohl das damalige Saargebiet noch bis Ende Februar 1935 von der internationalen Regierungskommission des Völkerbundes verwaltet wurde. Dieser Kirchenbaubeschluß wurde auf französischer Seite von Staat und Kirche unterstützt. Die am 15. Mai 1939 im Siedlungsteil Leiding eingeweihte Kirche war ein Geschenk Frankreichs an die lothringische Bevölkerung. Sie sollte laut Aussage des damaligen Bischofs von Metz als Anfang einer „geistigen Maginot-Linie“ in der Gemeinde dienen. Unter den Umständen einer auf nationale Konfrontation ausgerichteten Zeit erfüllte der Kirchenbau tatsächlich die beabsichtigte Funktion, denn von diesem Zeitpunkt an driftete das gemeinsame gesellschaftliche Leben von Leidingen/Leiding, Schreckling/Schrecklingen und Heining/Heiningen immer weiter auseinander. Die getrennte Erfahrung der Evakuierung der einen in Frankreich, der anderen in Deutschland sowie das Kriegsgeschehen mit seinen Schrecken trugen dazu bei, weitere Grenzen zwischen den Menschen zu ziehen. Den Gesetzen zum Trotz gingen die Kinder der deutsch-französischen Gemeinde dennoch bis 1943 gemeinsam in die Schule in Leidingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erzwang die rigide nationale Sprachpolitik Frankreichs, die mehr Gewicht auf endgültige nationale Integration Lothringens in den französischen Staatsverband als auf transnationale Kompetenzen legte, eine weitere, viel tiefergehende Trennung zwischen den Dörfern der alten Gemeinde. Auch auf saarländischer bzw. später bundesdeutscher Seite wurde nach 1945 kein Versuch unternommen, die regionale Dreisprachigkeit zu fördern. So wurde die Grenzlinie, die rund 120 Jahre lang nur auf dem Papier existiert hatte, schließlich zur Realität, so daß seither nicht nur in Leidingen/Leiding, sondern im gesamten Bereich der deutsch-französischen Grenze die jahrhundertealte Tradition einer mehrsprachigen „Grenz-Zone“ (Mark) mit den drei Sprachen Fränkisch bzw. Alemannisch, Deutsch und Französisch immer mehr verschwindet. Leiding gehört heute zur Commune Heining-lès-Bouzonville, Leidingen zur Gemeinde Wallerfangen. Die Kinder aus Leiding besuchen die Schule in Heining-lès-Bouzonville und die Kinder aus Leidingen die Schule in Gisingen. Sie lernen dort jeweils nur noch eine Sprache, nämlich die Hochsprache ihres Landes; je nach Dauer ihres Schulbesuchs lernen sie die Hochsprache des Nachbarlandes als Fremdsprache, sind also bestenfalls zweisprachig. Mit dem allgegenwärtigen Rückgang der Landwirtschaft und aufgrund zahlreicher komplexer Akkulturationsprozesse beiderseits der Grenze droht das hier gesprochene Moselfränkisch auszusterben; während es jedoch auf der saarländischen Seite noch zum Alltagsleben der Kinder von Leidingen in der Familie, im kirchlichen Umfeld oder auf dem Schulhof gehört, lernen es die Kinder von Leiding nirgends mehr. Heute ist transnationale Kommunikation in Leidingen/Leiding eine Frage der Alters- und der Staatszugehörigkeit. Die Generation von Lothringern, die nach dem letzten Krieg in Frankreich, unter oft traumatischen Umständen das Französische erlernte, ist die letzte, die noch komplett dreisprachig ist: Deutsch, Moselfränkisch, Französisch. Die Verständigung über die Grenze hinweg liegt im Alltag hauptsächlich in ihrer Hand. Wie das funktioniert, kann am besten bei dörflichen Festen in Leidingen/Leiding begutachtet werden, oder an den Kappensitzungen zur mi-carême in Heining/Heiningen.

Quellen und weiterführende Literatur

Klein, Johann, Dörfer auf dem Muschelkalk, Wiebelskirchen 1970.

Lask, Tomke, Einführung in die Anthropologie der Grenzräume: „Wir waren doch immer Freunde in der Schule...“. Europäisches Grenzverständnis am Beispiel Leidingens, Saarbrücken 2001.

Dies., La construction européenne à contre-courant des identités nationales. Le cas de Leiding/Leidingen en Sarre – Lorraine, in: Gabriel Gosselin et Jean-Pierre Lavaud (Hg.), Constructions et mobilisations identitaires. Approches théoriques et comparaisons internationales, Actes des journées d’étude des 10 et 11 mars 1997, Villeneuve d'Ascq 1997, S. 1–26.

Dies., „Baguette heads“ and „Spiked helmets“, children’s constructions of nationality on the german-french border, in: Donnan, Hastings (Hg.), Border Approaches. Anthropological perspectives on frontiers, Lanham 1994, S. 63–73.

 

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Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.