Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
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Gerhild Krebs

Gemeinschaftsscheune bzw. Dorfkirche Boust

Place de la Distillerie, Boust

Den Versuch einer Verbindung lothringischer Bautradition mit deutschen Wiederaufbauvorstellungen und -normierungen unternahm der Architekt Emil Steffann 1943 in seiner berühmt gewordenen „Dorfkirche“ in Boust.

So weit wie möglich verwandte Steffann in Bust (Boust) Trümmermaterial aus dem direkten Umkreis der Baustelle für den Bau der „Gemeinschaftsscheune“ und für einige Bauern- und Arbeiterhäuser, wobei er die Kriegszerstörungen nicht restlos tilgte, sondern bei wiederhergestellten Häusern die Bauaufgabe thematisierte – ein Bruch der Spielregeln des nationalsozialistischen Wiederaufbaus. Alle seine Bauten paßten sich durch die übernommenen Formen (tradierte Fenster und Türen, weit abgeschleppte Dächer) gut in den Bestand ein. „Die in Einzelfällen realisierten Versuche waren das Ergebnis eines intensiven, vorurteilsfreien Sich-Einlassens mit den materiellen wie geistigen Bedürfnissen der Bewohner eines besetzten Landes und ihrer Baukultur. Die Beiträge der anderen Architekten zum Wiederaufbau eignen sich kaum als Symbole des Widerstandes gegen die Staatsdoktrin“ (Ulrich Höhns in Jean-Louis Cohen/Hartmut Frank, Bd. III, Teil 1, S. 79). Die Gemeinschaftsscheune errichtete Steffann im Gegensatz zu sonstigen Notscheunen mitten im Dorf und fügte sie so in den vorhandenen Bestand ein, daß sie trotz ihrer Größe organisch in das Dorf zu passen schien: „Sie besaß zwar auch eine technische, minimierte, die von Steffann entwickelte Dachkonstruktion, wirkte aber mit ihrem großen Rundbogentor als einziger Öffnung inmitten einer Bruchsteinwand und einem talseitig herausgearbeiteten Eckpfeiler äußerst erdverwachsen. [...] Die Platzseite der Scheune war so gestaltet, daß sie eher flächenhaft und wie ein grafisches Zeichen wirkte, was den Eindruck der Massigkeit wieder brach. Ihr asymmetrisches Dach mit kurzer, steiler Berg- und langer, flacher Talneigung verband die wichtigste Linie des Gebäudes sinnfällig mit dem natürlichen Geländeverlauf und führte es an seinem niedrigsten Punkt an das Niveau der Anschlußbebauung heran.“ Ein kleiner seitlicher Anbau relativierte die Größe und Massigkeit des Gebäudes in Relation zum restlichen Dorf.

Durch tiefenräumliche Staffelung des zurückversetzten Baues im Verhältnis zu den vorhandenen Bauten erzielte Steffann außerdem den Effekt der Platzbildung mit sich je nach Blickrichtung erweiternder bzw. verengender Perspektive. Die Dimensionen der Scheune waren so geplant, daß sie nach dem Krieg als Dorfgemeinschaftshaus benutzt werden sollte, wobei Steffann später schrieb, der seitliche Anbau sei als Sakristei und der ganze Bau als Kirche gedacht gewesen. Das von Steffann für diesen Bau entwickelte neue Tragsystem eisenarmierter Rundholzpfetten zur kostensparenden Überdeckung großer Spannweiten ließ er sich im April 1943 vom Chef der deutschen Zivilverwaltung in Luxemburg patentieren.

Vermutlich aufgrund einer Denunziation, Rudolf Steinbachs Mitarbeiter baue „reichsfeindlich“, besichtigte eine SS-Abordnung aus Berlin die Scheune mit ihrem als „undeutsch“ geltenden Flachdach. Nach dem SS-Besuch wurden sowohl Steinbach als auch Steffann aus dem Wiederaufbau abgezogen, dessen tatsächliche Baumöglichkeiten ohnehin kriegsbedingt immer mehr eingeschränkt wurden.

Die Gemeinschaftsscheune in Bust (Boust) wurde in den 1960er Jahren durch An- und Einbau eines Wohnhauses eingreifend verändert. Der Bau, den Steffann selbst nach 1945 nur noch als „Notkirche“ bezeichnete, wurde immer wieder herangezogen, um die Legende eines Widerstandes deutscher Architekten in der Westmark aufrechtzuerhalten oder zumindest Steffann moralisch freizusprechen. Wenn überhaupt, so kann jedoch von Widerstand nur innerhalb der Baugestaltung gesprochen werden, denn er hielt sich an die wichtigsten Vorgaben des Wiederaufbaus. In seinem Fall scheint es jedoch – auch in Frankreich – ein Bedürfnis gegeben zu haben, ihn vom Verdikt des nationalsozialistischen Architekten weitgehend auszunehmen, obwohl sein Arbeitgeber zunächst der NS-Staat, und dann bis Kriegsende die deutsche Industrie war: „Obwohl Steffanns Arbeit von der gewaltsamen Germanisierung und von der Praxis der Deportationen in Lothringen nicht zu trennen ist, war es möglich, nach 1945 seine Bauten als Zeugnisse katholischen Widerstandes und als Akt der Hilfe für ein zerstörtes und verarmtes Land darzustellen; eine Interpretation, die sogar in Frankreich Zustimmung gefunden hat“ (Wolfgang Voigt in Jean-Louis Cohen/Hartmut Frank, Bd. III, Teil 2, S. 631).

Quellen und weiterführende Literatur

Cohen, Jean-Louis/Hartmut Frank (Hg.), Les relations franco-allemandes 1940–1950 et leurs effets sur l’architecture et la forme urbaine. Projet de recherche commun 1986–1989/Deutsch-französische Beziehungen 1940–1950 und ihre Auswirkungen auf Architektur und Stadtgestalt. Gemeinsames Forschungsprojekt 1986–1989, Abschlußbericht, unveröffentlichtes Manuskript, 3 Bde.

 

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Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.