Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
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Rainer Hudemann

Meisenthal – Glasindustrie in Lothringen

Die spätestens im 15. Jahrhundert begründete Tradition von wandernden, an Bächen in „Stützenhütten“ arbeitenden Glashütten im lothringischen Raum schien mit den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zunächst ein Ende zu nehmen. Nur in Soucht hielt sich eine Hütte über das Kriegsende hinaus, gab den Betrieb aber 1700 wegen Holzmangels auf. Seine Besitzer, die Gebrüder Walter, erhielten 1702 von Herzog Leopold von Lothringen eine neue Konzession im benachbarten Meisenthal – Ursprung der Glashütte, die im Rahmen der lothringischen Glasindustrie bald erheblich wuchs. Anders als die jenseits des Berges liegende Cristallerie Royale de Saint Louis, die als erstes Unternehmen in Frankreich bereits seit etwa 1780 Kristallglas herstellte, ging Meisenthal erst 1855 zur Kristallproduktion über.

Die Glasindustrie in der Saarregion und Lothringen war seit jeher eine an Grenzen wenig gebundene Industrie, mit bedingt durch die Tradition der Wanderhütten, die lange den Holzvorräten gefolgt waren. Neue grenzüberschreitende Verbindungen entstanden in Meisenthal jedoch in einer ganz besonderen Form nach der Annexion Lothringens durch das Deutsche Reich 1871 und der Verschiebung der Grenze.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war Meisenthal, wie die berühmteren Unternehmen in Saint-Louis, in Baccarat und in Wingen-sur-Moder (René Lalique), zu einem Zentrum künstlerischer Glasherstellung geworden. Die Luxus-Anforderungen des aufstrebenden Bürgertums im französischen Zweiten Kaiserreich, deren wachsender Wohlstand mit einem großen Urbanisierungsschub und der Schaffung von Wohnraum hoher Qualität einherging, boten einen rasch expandierenden Markt. Die Annexion brachte diesen Absatzmarkt zunächst in Gefahr. Doch schon rasch wurden die seit der Jahrhundertmitte aufgebauten Verbindungen nach Nancy, das jetzt Grenzlandmetropole geworden war, wieder aufgenommen: Meisenthal wurde bis 1894 zur wichtigsten Glas-Produktionsstätte der École de Nancy und damit des Art nouveau insgesamt, der französischen Form des Jugendstils.

Über ein Jahrhundert blieb dies in der Öffentlichkeit allerdings so gut wie unbekannt. Erst die großen Jubiläumsausstellungen zur École de Nancy im Jahre 1999, in deren Rahmen auch Meisenthal eine Ausstellung aus eigenem Besitz und mit Leihgaben aus vielen Museen Europas aufbaute, gaben dieser Verbindung Raum und Echo: jetzt erst war es möglich zu zeigen, daß eine der wichtigsten Produktionsstätten des Art nouveau im annektierten Teil Lothringens gelegen hatte. Erst jetzt gab es ein Bewußtsein dafür, daß hier grenzüberschreitende Wirkungslinien lagen, die man im pazifistischen Sinne von Gallé nun positiv interpretieren konnte als gemeinsame Verpflichtung zu friedlichem Ausgleich und Versöhnung, wie der Ausstellungskatalog (Meisenthal 1999, S. 30) es tat.

Meisenthal ist damit zugleich Zeuge für grenzüberschreitende Wirkungslinien in der Region und für die Schwierigkeit, mit diesem Erbe umzugehen und aktive Erinnerung in die stillgelegten, als Museum mit neuem Leben erfüllten Stätten zu bringen.

Die Verbindung nach Nancy hatte Nicolas Mathieu Burgun (1825–1889), in fünfter Generation Nachkomme eines der Unternehmensgründer, seit seiner Übernahme der Werksleitung 1855 aufgebaut. Charles Gallé-Reinemer (1818–1902) wurde einer seiner wichtigsten Auftraggeber für künstlerische Glas- und Kristallgestaltung. Der Sohn Émile Gallé (1846–1904), der 1867 die väterliche Fayencerie in Nancy übernahm und zum Gründer der École de Nancy wurde, behielt Meisenthal als Produktionsstätte für Glaskörper, Emaillierungsort und Dekorationsstätte bei, bis ihn 1894 die neue Konkurrenz der 1891 zur Kunstproduktion übergehenden Firma Daum zur Reduzierung der Kosten und damit zum Aufbau einer Kristallfabrik vor Ort in Nancy veranlaßte. Als „École de Nancy“ offiziell erst 1899/1901 gegründet, hatte die Gruppe der Künstler um Gallé das künstlerische Konzept seit 1870 allmählich entwickelt.

Émile Gallé verband seine künstlerische Tätigkeit mit politischem Engagement für den französischen Liberalismus – so in der Dreyfus-Affäre ab 1894 – und mit einer hohen wissenschaftlichen Kompetenz als Botaniker. Der Art nouveau entwickelte denn auch andere Formen als die Wiener Sezession und erst recht als der deutsche Jugendstil. Gemeinsam war das Ziel der Verbindung von industrieller Produktion und Kunst. Die deutschen Künstler strebten jedoch eine noch weitergehende Industrialisierung der Produktion an mit dem Ziel eines breiten künstlerischen Wirkens in die Bevölkerung hinein. Und sie entwickelten bald modernere, immer stärker stilisierte Formen, die bereits das Bauhaus der Zwischenkriegszeit vorzubereiten begannen. Der französische Art nouveau, und besonders der Botaniker Gallé, blieben demgegenüber eher bei naturalistischen, feinen Darstellungen von Flora und Fauna. Die Wiener Sezession situierte sich gutenteils zwischen beiden Tendenzen. Der Sezession und dem Jugendstil sollte bald der französische Art Déco näher kommen als der Art nouveau aus Nancy.

Gallé entwickelte trotz aller Post- und Zollprobleme über 25 Jahre eine enge Zusammenarbeit mit Meisenthal. Désiré Christian war Chef der Equipe, die dort in der Firma Burgun, Schverer & Cie. für Gallé arbeitete und seine Zeichnungen und Formen in Glas produzierte: in geblasenem, geschliffenem und bald auch emailliertem Glas, für welche die Produktionstechniken in enger Zusammenarbeit laufend verfeinert wurden. Eugène Kremer wurde um 1880/1885 Christians Mitarbeiter und 1897, als dieser in Meisenthal eine eigene Firma gründete, sein Nachfolger. 1894 half Joseph Burgun Gallé beim Aufbau seiner eigenen Kristallerie in Nancy.

Die Meisenthaler Produktion für Émile Gallé spiegelte die politische Konfliktsituation oft direkt wider. Das Lothringer Kreuz als politisches Symbol der Zugehörigkeit der Region zu Frankreich findet sich auf vielen Erzeugnissen. Noch weiter ging die Demonstration mit Eingravierungen wie „Mon courage double pour mon pays“, „Ce n’est pas pour toujours“ oder „Espoir me luit au travers des maux. Et suit la lumière“ auf berühmt gewordenen Vasen, die 1889 schon bei der Pariser Weltausstellung gezeigt wurden.

Die Meisenthaler Glasbläser und Graveure entwickelten nach der Epoche der Zusammenarbeit mit Émile Gallé eine Fülle eigener Erzeugnisse. Vor der Jahrhundertwende hatten sie bereits Niederlassungen in Berlin, Hamburg, Paris und London, später in Mailand, ab 1915 in Mexiko und Buenos Aires. Im 20. Jahrhundert wurden die Verreries d’Art de Lorraine zu einer der bedeutendsten Glasfabriken der Vogesen, bis 1969 die Schließung des Unternehmens erfolgte, nachdem noch 1965 eine neue Produktionshalle in Betrieb genommen worden war.

Schon seit 1973 begann sich unter Anleitung der Verwaltung des Parc régional des Vosges du Nord und seines Chefkonservators Jean-Claude Brumm eine Initiative von Dorfbewohnern um Lucien Fleck zu organisieren, um die Tradition der Glasfabrikation in der Region lebendig zu erhalten. 1983 konnte sie in den alten Fabrikgebäuden die Maison du Verre et du Cristal de Meisenthal eröffnen. Sie vereint Zeugnisse der Produktionstechniken mit Beispielen für die Vielfalt der künstlerischen und Gebrauchs-Produktion. In ehrenamtlicher Arbeit entstand so über Jahre hinweg ein ganzer Museumskomplex. 1992 kam ein Internationales Zentrum der Glaskunst hinzu: Seit 1993 finden in den alten Produktionshallen in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Bildende Künste in Saarbrücken – in der Gründungsphase gefördert durch das EU-Programm Interreg I – alljährlich Sommerkurse unter Leitung von international führenden Glas-Künstlern statt. Meisenthal ist damit zugleich zur Stätte der Erinnerung und zum Ort der Wiederbelebung jahrhundertealter grenzüberschreitender Traditionen in der Region geworden.

Quellen und weiterführende Literatur

Le Tacon, François/Franckhauser, Paul/Fleck, Yvon, Meisenthal 1999 – Berceau du Verre, Art nouveau – École de Nancy, Meisenthal 1999.

Reflexionen. Drei Jahre Glaswerkstatt Meisenthal/Historisches Museum Saar, hg. für die Communauté de Commune du Pays du Verre et du Cristal und die Hochschule der Bildenden Künste Saar von François Burkhardt, Textredaktion: Rita Gehlen, Dillingen/Saar 1996.

Nancy 1900. Jugendstil in Lothringen, Zwischen Historismus und Art déco, Ausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 28. August–23. November 1980, bearb. von Josef A. und Helga Schmoll gen. Eisenwerth, Mainz/Murnau 1980.

 

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Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.