Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
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Rainer Hudemann

Volkstumspolitik, Raumplanung und Vertreibungen

Nach dem Krieg spielten in der saarländischen Auseinandersetzung mit französischen Annexionsplänen die Ende 1945 bis in das französische Oberkommando in Baden-Baden angestellten Überlegungen eine Rolle, 100000 Saarländer auszuweisen. Noch in den 1990er Jahren wurde dies in der Publizistik gelegentlich als Beweis für eine annexionistische Politik auch der Pariser Regierung und für die Härte des französischen Auftretens gesehen.

Abgesehen davon, daß solche Vorstellungen Anfang 1946 schon sehr rasch aus den Sandkastenspielen für die Nachkriegspolitik wieder verschwanden, übersah man in der deutschen Kritik – absichtlich oder nicht – den Hintergrund: Deutschland hatte etwa diese Anzahl von Menschen nach der faktischen Annexion Lothringens 1940 und in den folgenden Jahren von Haus und Hof vertrieben, in manchen Dörfern bis zu 80% der Einwohner. Weitere etwa 100000 von den beim Feldzug 1940 geflohenen Lothringern – die angegebenen Zahlen schwanken hierfür zwischen 160000 und 314000 Menschen, etwa 45% der Bevölkerung – kehrten bis Kriegsende nicht zurück. Die Vorstellungen stammten also im Ursprung nicht aus französischen Planungen, sondern aus deutscher politischer Realität.

Erst die jüngste Forschung hat erkannt, daß diese Vertreibungen von Lothringern, welche Französisch als Muttersprache sprachen, die deutsche Politik an der Westgrenze ganz in die Nähe von Maßnahmen rücken, die in Osteuropa zur Vernichtungspolitik führten, auch wenn im Westen nicht Völkermord die Folge war. Deportiert wurde mit großer Brutalität, meist nachts innerhalb von 30 Minuten bei Mitnahmen nur allerkleinsten Gepäcks ohne Wertsachen. Jahrelang lebte die Bevölkerung in Lothringen in ständiger Angst vor diesen Verschleppungen. Vertreibung und Siedlungspolitik griffen jetzt in einem Gesamtkonzept ineinander.

Ganz ähnlich wie im Osten, nutzten die Planungen dafür auch wissenschaftliche Arbeiten, die zunächst in völlig anderen Kontexten entstanden waren. So gehören in der Geographie und der Stadtplanung bis heute die in Anfang der dreißiger Jahre entwickelten Theorien von Walter Christaller für eine in konzentrischen Kreisen um Zentren angelegte Planung zu den Klassikern der Raumordnung. Den Planungen für den Raum Thionville und die Stadt Château-Salins (Groß-Salzburgen) wurden sie im Krieg zugrundegelegt und waren ihrer Verwirklichung auf Kosten der französischen Bevölkerung nahe. Raumordnung im Westen wurde so einerseits zu einem Spielfeld für Planungen, die im Inneren des Reiches zunächst nur wenig Realisierungschancen hatten. Daß, wie im Haupttext geschildert, so viele der daran beteiligten Architekten nicht als fanatische Nationalsozialisten bezeichnet werden können, ist bezeichnend für die Unbedarftheit, mit der Planer und Wissenschaftler sich in den Dienst einer Politik stellen ließen, die ganz andere als rein planerische Ziele verfolgte. Sie konnten die Illusion eines guten Gewissens auch deshalb nähren, weil viele der Planungen direkt an nicht realisierte deutsche Konzepte aus der Reichslandzeit anknüpften, an das halbe Jahrhundert der Annexion nach 1871. Aus solchen Dispositionen erklärt sich auch, daß einige der Planer – bis hin zu solchen, die im Osten schließlich, vor allem mit Himmlers „Generalplan Ost“ für die Massenvertreibungen, sogar direkt in die Vorbereitungen für den Massenmord verwickelt waren – nach dem Krieg in der Bundesrepublik jahrzehntelang international hochangesehene Positionen in der Wissenschaft von der Raumordnung einnehmen konnten. Gelegentlich trugen sie, wie Peter Heil gezeigt hat, bis an das Ende ihrer Tätigkeit öffentlich und besten Gewissens den Stolz auf ihre während des Krieges entwickelten Planungen zur Schau.

Daß auch in Lothringen die Volkstumspolitik sich so extrem radikalisierte, ging nun allerdings weniger auf die Planer und Architekten zurück, auch wenn die frühen Planungen für „ethnische Säuberungen“ von Verwaltungsbeamten stammten. So wies der „Lothringer Plan“ von 1940 viele Übereinstimmungen mit dem Generalplan Ost auf, wie Hans Schaefer rekonstruieren konnte. Hintergrund war vielmehr, wie so oft im III. Reich, die innere Struktur des Herrschaftssystems mit seiner Vielfalt von Konkurrenzverhältnissen und Grabenkämpfen. Für den Gauleiter der Westmark Josef Bürckel, seit März 1941 „Reichsstatthalter in der Westmark und Chef der Zivilverwaltung in Lothringen“, wurde die Volkstumspolitik zum Terrain, auf dem er sich gegenüber seinem Führer und vor allem gegen Himmler als „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ profilieren wollte und konnte. Bürckel orientierte sich an der Sprache der Lothringer, um einen „Menschenwall“ aus Arbeiterbauern aufzubauen. Die SS-Führung, in ihrer Planungsabteilung u.a. von dem Geographen Konrad Meyer geprägt, verfolgte dagegen eine rassistisch-anthropologische, gegebenenfalls auch französischsprachige Lothringer einbeziehenden „Umvolkungspolitik“ mit neuen Siedlungskonzepten. Statt, wie mancher hätte hoffen können, zwischen diesen Fronten Nischen entstehen zu lassen, in denen ein Überdauern der Schreckenszeit denkbar gewesen wäre, trugen die Grabenkämpfe ganz im Gegenteil dazu bei, daß die deutsche Politik auch in Lothringen immer fanatischer wurde.

Als eine sarkastische Ironie vor grausamem Hintergrund erscheint, daß der deutsche Anspruch, „Ordnung“ in die lothringische Landwirtschaft zu bringen, sich dabei in sein Gegenteil verkehrte. Kaum ein Siedler erwies sich als der übernommenen Aufgabe gewachsen. So wurden Menschen auf die Höfe geschickt, die man im eigenen Dorf, etwa in der Pfalz, hatte loswerden wollen. Auch die aus der Bukowina nach Lothringen umgesiedelten Deutschstämmigen konnten keine erfolgreiche Landwirtschaft aufbauen. Die Gesamtorganisation war in vielfacher Hinsicht dilettantisch. Die 1940/1941 eigens gegründete „Bauernsiedlung Westmark“, aus der in der Nachkriegszeit die Landesentwicklungsgesellschaft Saar LEG (heute Saarland Immobilien Gesellschaft SIG) wurde, hatte schließlich eine düstere Bilanz vorzuweisen. Als die vertriebenen Lothringer 1944/1945 zurückkehrten, fanden sie ihr Hab und Gut zumeist heruntergewirtschaftet, wenn nicht gar verwüstet vor – nicht nur durch Kriegsereignisse, sondern vor allem auch durch die „Effizienz“ deutscher Siedlungspolitik.

Das war einer der Hintergründe, vor denen sich die saarländisch-lothringischen Beziehungen nach der Befreiung Frankreichs lange Jahre so außerordentlich schwierig gestalteten – zumal so viele auf der deutschen Seite sie sehr schnell „vergaßen“ oder gar nicht erst zur Kenntnis nahmen, und das gelegentlich bis heute. Immerhin hatte die Gestapo-Leitstelle für die Westmark seit 1940 im Saarbrücker Schloß ihren Sitz gehabt.

Quellen und weiterführende Literatur

Cohen, Jean-Louis/Frank, Hartmut (Hg.), Les relations franco-allemandes 1940–1950 et leurs effets sur l’architecture et la forme urbaine. Projet de recherche commun 1986–1989/Deutsch-französische Beziehungen 1940–1950 und ihre Auswirkungen auf Architektur und Stadtgestalt. Gemeinsames Forschungsprojekt 1986–1989, Abschlußbericht, unveröffentlichtes Manuskript, 3 Bde.

Heil, Peter, Nationalsozialistische Volkstumspolitik in Lothringen, dem Saarland und der Pfalz 1940–1944 , in: GrenzenLos. Lebenswelten in der deutsch-französischen Region an Saar und Mosel seit 1840. Katalog zur Ausstellung, hg. vom Historischen Museum Saar, Saarbrücken 1998, S. 134–155.

Mai, Uwe, Ländlicher Wiederaufbau in der „Westmark“ im Zweiten Weltkrieg, Kaiserslautern 1993.

Schaefer, Hans, Bürckels Bauernsiedlung. Nationalsozialistische Siedlungspolitik in Lothringen während der „verschleierten“ Annexion 1940–1944, Saarbrücken 1997.

Wolfanger, Dieter, Die Nationalsozialistische Politik in Lothringen, Saarbrücken 1977.

 

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Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.