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Rainer HudemannLuxemburg: Eigenstaatlichkeit in europäischer VernetzungAufgrund der jahrhundertelangen Zugehörigkeit zu anderen Herrschaften, vor allem zu den spanischen und dann österreichischen habsburgischen Niederlanden, konnte ein Rückgriff auf spezifische eigene Traditionen auch nur begrenzt erfolgen. Kriegerische Auseinandersetzungen, die in Deutschland in den Befreiungskriegen gegen Napoleon oder in Italien im Kampf gegen Habsburg als Katalysator des Nationalbewußtseins wirkten, fehlten hier jetzt weitgehend; gegen Ende des Ancien régime hatte auch der Luxemburger Adel trotz der das ganze 18. Jahrhundert durchziehenden harten Divergenzen mit der Habsburger Krone noch zu deren treuesten Anhängern gehört. Die Auseinandersetzungen mit Herrschaften, die man aktuell oder rückblickend als Fremdherrschaften empfand, erfolgten auf eine andere, differenziertere Weise. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich daraus besonders komplexe Überlagerungsformen von Einflüssen, die vielfach erst im Zuge der Nationalstaatsbildung zwischen 1815 und 1839 zu tatsächlich „ausländischen“ Einflüssen wurden: • Die alten Traditionen einer nach Frankreich orientierten Kultur der Oberschichten bis zum 18. Jahrhundert; • die Traditionen der spanischen und seit 1714 österreichischen Niederlande, nach der französischen Besatzung 1684–1698 und der Herrschaft Philipps von Anjou 1700–1711 sowie dem bayrischen Zwischenspiel 1711–1714; • die nachhaltige und langfristig strukturell wirksame Neubelebung bzw. Verstärkung des französischen Einflusses mit der revolutionären Annexion 1795 und unter der Wirkung napoleonischer Institutionen im Département des Forêts bis 1814 – Institutionen, die mit manchen im späteren Belgien eingeführten gutenteils identisch waren; • die erneute Bindung an die Niederlande in dem auf dem Wiener Kongreß 1815 in Personalunion mit dem Königreich der Niederlande geschaffenen Großherzogtum Luxemburg, das als Mitglied des Deutschen Bundes gleichzeitig starken Einflüssen der beginnenden deutschen Nationalstaatsbildung unterlag; • die beginnende Eigenständigkeit mit der Aufteilung der Provinz Luxemburg zwischen Belgien und den Niederlanden entlang der Sprachgrenze nach der Belgischen Revolution von 1830 – eine Eigenständigkeit als persönliches Großherzogtum des Hauses Oranien-Nassau, die nach konfliktreichen Jahren aber erst 1839 durchgeführt wurde, dem rückblickend deshalb als Beginn des Nationalstaates geltenden Jahr; • der ökonomische Aufschwung mit dem Beitritt zum Zollverein 1842, der politischen Neutralisierung des Landes nach dem – von Preußen vereitelten – Versuch Napoleons III. 1867, Luxemburg zu kaufen, und der Übernahme der Verwaltung der Eisenbahn Wilhelm-Luxemburg durch das Deutsche Reich 1871. Einfluß- und kulturelle Transferprozesse, die aus dieser komplexen Schichtung von Traditionen folgten, verliefen in ihren Wirkungslinien durchaus widersprüchlich. So verstärkte die mangelnde Durchführung der 1815 zugesagten luxemburgischen Sonderrechte durch den Oranier Wilhelm I. letztlich eher die jahrhundertealten Spannungen mit den Niederlanden, als daß diese gemindert worden wären, festigte zugleich aber die engen Verbindungen mit Belgien zusätzlich. Der Beitritt zum Zollverein und das sowohl politische als auch ökonomische Gewicht des Deutschen Reiches in Europa nach 1871 stärkten zwar den deutschen Einfluß. Zugleich wuchs als Gegenreaktion aber auch – von den preußischen und deutschen Gesandten oft beklagt – die kulturelle Orientierung der neu aufsteigenden Eliten und bald auch großer Teile der an sich germanophonen Unter- und Mittelschichten an Frankreich: nicht als politisches Bekenntnis, sondern als Element der „Selbstbehauptung“ der Luxemburger. Bewußt reflektierte Orientierungen, wie sie sich in der Architektur des Plateau Bourbon niederschlugen, wirkten hier ebenso ein wie etwa die grenzüberschreitenden Wanderungen von Dienstboten oder Handwerkern. Die Rückbesinnung auf die luxemburgische Sprache, die im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte neben Französisch und Deutsch ein zunehmendes Gewicht erhielt, verkörperte das sich stetig verstärkende Bemühen um eine eigenständige Entwicklung der neuen Nation im Schnittpunkt dieser vielfältigen Wirkungslinien. Dabei wurden Einflüsse bewußt oder unbewußt aufgegriffen oder aber auch konterkariert, um aus der Kultur und Tradition der zahlreichen Länder, mit denen Luxemburg einmal politisch-institutionell verbunden gewesen war, Elemente zu übernehmen und sie in einem als spezifisch luxemburgisch verstandenen Eklektizismus zu integrieren. Insofern wurde die Suche nach einer Verbindung unterschiedlichster Einflußelemente in Luxemburg, anders als in vielen anderen Nationalstaaten, zu einem Kernelement des Nationsbildungsprozesses selbst. Der Erste Weltkrieg und noch wesentlich stärker der Zweite Weltkrieg mit seiner faktischen Annexion Luxemburgs durch das Deutsche Reich, der Eingliederung in den Gau Moselland und der Verfolgung durch den deutschen SS-Apparat führten dauerhaft zu einer stärkeren Orientierung des Landes an Frankreich als an Deutschland. Hinzert bei Hermeskeil im Hunsrück ist als das SS-Sonderlager, in das die meisten luxemburgischen Widerstandskämpfer eingeliefert wurden, zum Symbol dieses Kampfes geworden. Gemessen an der Bevölkerungszahl, hatte Luxemburg unter den besetzten Ländern Europas den höchsten Anteil an Widerstandskämpfern. Zahlreiche Stätten, wie die Villa Pauly als Sitz der Gestapo in Luxemburg-Stadt, gemahnen heute an diese Erfahrungen. Dennoch haben einige große Persönlichkeiten der europäischen Wirtschaft, Kultur und Politik im 20. Jahrhundert die Mittlerposition des Landes verkörpert, die sich vor dem Wirkungsgeflecht der Nationalstaatsbildung entfaltete. Zu ihnen gehörte in der Zwischenkriegszeit Émile Mayrisch, der Direktor der ARBED, mit seinen Konzeptionen für grenzüberschreitende Wirtschaftskartelle und seiner beeindruckenden kulturellen Mittlertätigkeit im Deutsch-französischen Studienkomitee, die nicht zuletzt auch auf seiner Analyse der Wirtschaftsinteressen der beteiligten Nationen gründete. Manche seiner Ideen griff nach dem Zweiten Weltkrieg Robert Schuman wieder auf, der die Vertretung nationalstaatlicher französischer Modernisierungsinteressen als französischer Außenminister mit der Initiative zur funktionalen europäischen Teil-Integration in der Montan-Union verband. Eine weitere wichtige Rolle in der europäischen Integration übernahm in den fünfziger Jahren mehrfach Luxemburgs Ministerpräsident Joseph Bech. Solche die grenzüberschreitenden Zukunftsperspektiven der Nationalstaaten realistisch einschätzende Persönlichkeiten sind Ausdruck der Kultur ihres Ursprungslandes, worin sie – wie Schumans Beispiel zeigt – manchen Lothringern nicht unähnlich sind.
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