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Rainer Hudemann
Anfänge grenzüberschreitender betrieblicher
Sozialversicherung in den Firmen Villeroy und Boch
Bismarcks großes Sozialversicherungswerk der 1880er Jahre prägt
die deutsche Sozialpolitik bis in die Gegenwart und strahlte in Europa
seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert weithin aus – sei es als
Vorbild, sei es als Gegenmodell bei der Entwicklung andersartiger neuer
Lösungen wie in Frankreich ab 1910 und vor allem in Großbritannien
seit dem Zweiten Weltkrieg.
Bismarck schuf ein in seiner Konzeption geschlossenes Unfall-, Kranken-,
Individualitäts- und Altersversicherungswerk für die Arbeiterschaft,
das nach 1900 für die Angestellten ergänzt und 1910 in der Reichsversicherungsordnung
insgesamt kodifiziert wurde. So neu sein Gesamtkonzept war, so baute es
doch auf einer Vielzahl einzelner Bausteine auf, die sich im Laufe früherer
Jahrhunderte vor allem im Zunftwesen und verstärkt im 19. Jahrhundert
herausgebildet hatten. Die Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit in Preußen
waren einer dieser Bausteine. Ein anderer war die betriebliche Sozialpolitik,
welche im deutschen Raum ein weit größeres Gewicht erhielt
als in vielen anderen europäischen Ländern.
Die verschiedenen Firmen, aus denen schließlich das Weltunternehmen
Villeroy & Boch wurde, hatten schon vergleichsweise früh betriebliche
Schutzsysteme für ihre Belegschaften eingerichtet. Stärker als
die betriebliche Sozialpolitik
etwa eines Freiherrn von Stumm-Halberg waren
die Familien Villeroy und Boch dabei
von Konzepten christlicher Sozialfürsorge geprägt. Im luxemburgischen
Septfontaines, dem zweiten Ursprungsort des Unternehmens Boch, folgte
auf den Bau von Arbeiterhäusern seit dem 18. Jahrhundert im Jahre
1812 die Einrichtung der St. Antonius-Bruderschaft als betriebliches
Sicherungssystem für Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter,
1819 ebenso in Mettlach. Nicolas Villeroy errichtete bereits 1817 in Wallerfangen
eine Arbeiter-Sozialkasse unter gleichem Namen. Beitrittsberechtigt waren
anfangs nur Facharbeiter, in Wallerfangen entstand auch eine Tagelöhner-Sicherung.
Die Statuten wandelten sich im Laufe der Zeit. Allmählich übernahmen
diese Bruderschaften auch weitere Aufgaben für die Belegschaft, so
im Bildungssektor, bei der Hilfe in besonderen Notlagen oder bei Lohnersatz
für eingezogene Arbeiter, während andere Aufgaben durch staatliche
Regelung – etwa durch die 1885 in Wallerfangen getrennt eingerichtete
Betriebskrankenkasse - anders organisiert wurden. Auch in den Vorständen
fanden sich mit Sitzen der Vertreter der Belegschaft frühe Ansätze
zu sozialer Selbstverwaltung.
Hier wurden Grundprinzipien katholischer Soziallehre auf betrieblicher
Ebene früh in die Praxis umgesetzt und ständig weiterentwickelt.
Der Bereich, den man später als Sozialversicherung bezeichnete, war
dabei nur ein Element in einer breiter gefächerten örtlichen
und regionalen unternehmerischen Sozialpolitik, die – etwa im Krankenhausbau
in Wallerfangen – auch sehr innovativ tätig wurde. Im Kern
waren wesentliche Elemente sozialer Sicherung, wie sie um 1900 zum Standard
in Deutschland wurde, in der Grenzregion über die Grenzen hinweg
damit in einem begrenzten Rahmen bereits Jahrzehnte früher angelegt.
Quellen und weiterführende Literatur
Gorges, Karl-Heinz, Der christlich geführte Industriebetrieb im
19. Jahrhundert und das Modell Villeroy & Boch, Stuttgart 1989.
Adler, Beatrix, Wallerfanger Steingut. Geschichte und Erzeugnisse der
Manufaktur Villeroy Vaudrevange (1791–1836) bzw. der Steingutfabrik
Villeroy & Boch Wallerfangen (1836–1931), 2 Bde., Saarbrücken
1995.
Villeroy & Boch. Ein Vierteljahrtausend europäische Industriegeschichte
1748–1998, Mettlach 1998.
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