Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung
   
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Rainer Hudemann

Quartier de la Gare, Metz

Stadtplanung zwischen Militär und Modernisierung

Eines der besterhaltenen Beispiele für den ästhetischen Städtebau des deutschen Kaiserreiches ist die sogenannte Metzer Neustadt um den Bahnhof. Aufgrund seiner Lage dicht an der neuen deutsch-französischen Grenze von 1871 blieb die militärische Bedeutung der Stadt noch ungleich größer als in Straßburg. In Straßburg ging man schon rasch nach Kriegsende an die Planungen für die Niederlegung der Festungswälle und die Erweiterung der Stadt. In Metz dauerte das bis zum Jahrhundertende. Metz wurde, in Erweiterung der alten Militäranlagen, mit einem doppelten Festungsring umgeben. Dicht vor den Toren der Stadt entstand ein erster Ring, zu dem beispielsweise die Feste Goeben, das heutige Fort Queuleu gehörte. In einem Umkreis von rund 25 km kam ein zweiter Ring hinzu mit neuen Großanlagen des Festungsbaues. Vor Kriegsausbruch 1914 war Metz damit zur größten Festungsanlage der Welt ausgebaut.

Das prägte auch die Stadterweiterung, als die alten Festungswälle von Vauban nach 1898 schließlich auch hier niedergelegt wurden. Militärische Stellen behielten sich die Genehmigung sämtlicher Planungen vor, und Kaiser Wilhelm II. griff zusätzlich bis in kleine Einzelheiten in die Pläne ein – vor allem bei Großbauten wie dem Bahnhof oder der protestantischen Kirche auf der Moselinsel, oder auch bei der Renovierung der Kathedrale. Gegenüber der Vorherrschaft militärischer Planungsprinzipien entwickelte sich ein immer stärkerer lokaler Widerstand, und die Petitionslisten der nach 1890 an den Kaiser oder andere Berliner Stellen gerichteten Proteste vereinten erstmals seit 1871 Unterschriften der eingesessenen und der zugewanderten „altdeutschen“ Bevölkerung: ein Zeichen dafür, daß die Stadtplanungen in Metz sogar die einander lange fast völlig fremden beiden Bevölkerungsteile zusammenzuführen begannen.

Künstlerischer oder ästhetischer Städtebau als Grundprinzip

Der relativ späte Zeitpunkt der Metzer Entfestigung, eine der letzten Großstadtentfestigungen überhaupt, führte aber dazu, daß moderne deutsche Planungsprinzipien hier weit stärker zur Geltung kamen als in vielen anderen Städten. In Straßburg war der Ausbau nach 1871 zunächst noch den preußischen, geometrisch exakten und zugleich von Haussmann in Paris beeinflußten Prinzipien gefolgt; erst in den äußeren Teilen der Straßburger Neustadt zeigte sich seit Ende des Jahrhunderts der Einfluß des ästhetischen Städtebaues mit seinen gebrochenen Perspektiven und kleinen Räumen – die innerstädtische Straßburger Opposition hatte hier erfolgreich auf Konzepte aus der deutschen Heimatschutzbewegung zurückgegriffen, um sich gegen die deutsche Stadtplanung zur Wehr zu setzen. In Metz war die Bürgerschaft politisch nicht so stark wie in Straßburg, und hier hatte die Öffentlichkeit daher eine andere Struktur. Mittlerweile waren die neuen Prinzipien jedoch von offizieller Seite aufgegriffen worden. Und so wurde die Stadterweiterung von Metz geradezu zu einem Schulbeispiel für ästhetischen – oder, wie man ihn auch nannte: künstlerischen – Städtebau. Nach den Zerstörungen der beiden Weltkriege ist das Bahnhofsviertel in Metz neben dem Frankfurter Westend das beste noch erhaltene Beispiel dieser Städtebauform.

Typisch war bereits der Bahnhofsvorplatz: Der Bahnhof bildet mit der Post und der Fluchtlinie der Hotels ein unregelmäßiges Dreieck, also keinen geometrisch regelmäßigen Platz wie in den Berliner oder Pariser Rechteck- und Kreis-Plätzen seit der Jahrhundertmitte. Die Hauptverbindungsstraße zur Innenstadt, die Bahnhofstraße/heute Rue Garibaldi, ist in ihrer Mitte mittels eines kleinen dreieckigen Platzes abgewinkelt: Vom Bahnhof aus ist der Blick zunächst durch Wohnhäuser gebrochen und im weiteren Verlauf an ihrem Ende (heute Place Mondon) erneut durch die Chambre de Commerce et d’Industrie, die alte deutsche Industrie- und Handelskammer, sowie die Reichsbank als Symbol deutscher Wirtschaftsmacht im annektierten Lothringen. Links an ihr vorbei führt die Anbindung an die Innenstadt wieder in gebrochener Perspektive weiter.

In umgekehrter Richtung, von der Place Mondon hin zum Bahnhof, ist in der Rue Garibaldi die Perspektive dementsprechend gleichfalls gebrochen, und zwar durch den großen neo-romanischen Bau der Post und „hinter“ diesem Bruch dann durch das Hauptgebäude des Bahnhofs. Kleine Laubenblöcke an der Rue Garibaldi, an deutsche Architektur etwa in Bozen (Bolzano) in Südtirol erinnernd, schaffen hier erneut den Eindruck eines kleinen Platzes.

Gekrümmte und perspektivisch gebrochene Straßen finden sich in diesem Viertel in großer Zahl. Das gilt für viele kleinere Straßen, so etwa die geschwungene Rue Seiler. Und es gilt für den großen, auf dem ehemaligen Festungswall errichteten Ring der Avenue Foch. Die Verbindung von alter und neuer Stadt wird auch perspektivisch gesucht: Von der gewaltigen Bahnunterführung aus führt der Blick zur Innenstadt jenseits der Avenue Foch auf die Place Thiébault mit ihren barocken Bürgerhäusern, die einst innerhalb des Festungsringes lag.

Die moderne Stadt – die Metzer Zonenbauordnung

Zum künstlerischen Städtebau gehört der Anspruch, kleine Räume mit modernsten urbanistischen Anforderungen zu verbinden. Die Straßenführung der Jahrhundertwende erlaubt noch heute überall einen zügigen Verkehrsfluß. Der gleichfalls neo-romanische große Wasserturm am Bahnhof, optisch in den Bahnhofsplatz integriert, symbolisiert die Bedeutung von moderner Städtehygiene: Bei der Rückgliederung 1918 war Metz im Hinblick auf Wasserversorgung und Kanalisation die modernste Stadt Frankreichs. Das galt auch für die sozialräumliche Differenzierung der Stadt. Reinhard Baumeister hatte als Professor an der Technischen Hochschule Karlsruhe dafür seit den 1870er Jahren das Konzept der Zonenbauordnungen entwickelt: eine Einteilung der Stadt nach Funktionen ihrer Viertel. Heute eine Selbstverständlichkeit, entwickelte sich dies während des Kaiserreiches ziemlich rasch in den deutschen Städten. Eine besonders beachtete Zonenbauordnung wurde in Metz entworfen – 1918 war sie die erste Zonenbauordnung Frankreichs. Und in der Tat: geht man die Straßen entlang, so bezeichnen die Baudaten auf den Türstürzen der Häuser häufig Jahre aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem den Baukonjunktur-Jahren 1924 und 1928. Man hat in Metz also trotz des totalen Bruches mit der Annexionszeit, den Kriegsende und Versailles politisch darzustellen schienen, die Planungen der Reichslandjahre schlicht kaum verändert weiter- und ausgeführt. So ergibt sich hier eine bemerkenswerte Überlagerung von deutschen und französischen Städtebauaktivitäten.

Am Stadtbild ist die alte Zonenbauordnung von 1910 klar abzulesen: Die Avenue Foch hat auf der Nordseite Villen, auf der Südseite fünfstöckige Wohnhäuser. Im Inneren des Bahnhofsviertels ist das Erdgeschoß in manchen dieser Wohnhäuser für Gewerbe zugelassen, in anderen nicht. Andere Straßen weisen größere Mietshäuser mit vier oder fünf Stockwerken auf, wieder andere nur Villen oder Zweifamilienhäuser.

Zivile und militärische Nutzung

Heute nur noch erkennbar, wenn man es weiß, ist die militärische Prägung des ganzen Viertels: Alles war für zivile und militärische Nutzung vorgesehen. Der Bahnhof war im Kriegsfall Verkehrszentrum, die Post Kommunikationszentrum, die Hotelzeile am Bahnhofsvorplatz wurde als Sitz des Generalstabes vorgesehen. Der Kaiser-Wilhelm-Ring, heute Avenue Foch, und die Nebenstraßen konnten den Aufmarsch der Truppen nach ihrer Ankunft oder vor ihrer Verladung am Bahnhof aufnehmen. Typisch die scheinbar so romantische Avenue Foch: Die Straßen an ihren beiden Seiten dienten Fuhrwerken und der Artillerie, die kleineren Wege zwischen den Baumreihen in der Mitte für Infanterie und Reiter. So spiegelt das Metzer Bahnhofsviertel zugleich das modernste wieder, was das Kaiserreich an Stadtplanung zu bieten hatte, und die militärische Prägung seiner Politik gerade in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges: 1908 wurde der Bahnhof eingeweiht, 1914 waren viele der vorgesehenen Bauten des Viertels noch nicht fertig oder noch gar nicht begonnen.

Quellen und weiterführende Literatur

Cornelißen, Christoph/Fisch, Stefan/Maas, Annette, Grenzstadt Straßburg. Stadtplanung, kommunale Wohnungspolitik und Öffentlichkeit 1870–1940, Mit einer Einleitung von Rainer Hudemann, St. Ingbert 1997.

Hudemann, Rainer/Wittenbrock, Rolf (Hg.), Stadtentwicklung im deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum (19. u. 20. Jh.). Développement urbain dans la région frontalière France-Allemagne-Luxembourg (XIXe et XXe siècles), Saarbrücken 1991, darin vor allem der Beitrag von Stefanie Woite.

Laburte, Dominique/Cartal, Jean-Jacques/Maurand, Paul, Les villes pittoresques, étude sur l’architecture et l’urbanisme de la villle allemande de Metz entre 1870 et 1918, Nancy 1981.

Le Moigne, François-Yves (Hg.), Histoire de Metz, Toulouse 1986.

Ders. (Hg.), Urbanisme et architecture en Lorraine 1830–1930, Metz 1982.

Wittenbrock, Rolf, Die Auswirkungen von Grenzverschiebungen auf Stadtentwicklung und Kommunalverfassung: Metz und Straßburg (1850–1930), in: Haubrichs, Wolfgang/Schneider, Reinhard (Hg.), Grenzen und Grenzregionen. Frontières et régions frontalières. Borders and Border Regions, Saarbrücken 1994, S. 239–265.

 

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Memotransfront - Stätten grenzüberschreitender Erinnerung Rainer Hudemann unter Mitarbeit von Marcus Hahn, Gerhild Krebs und Johannes Großmann (Hg.): Stätten grenzüberschreitender Erinnerung – Spuren der Vernetzung des Saar-Lor-Lux-Raumes im 19. und 20. Jahrhundert. Lieux de la mémoire transfrontalière – Traces et réseaux dans l’espace Sarre-Lor-Lux aux 19e et 20e siècles, Saarbrücken 2002, 3., technisch überarbeitete Auflage 2009. Publiziert als CD-ROM sowie im Internet unter www.memotransfront.uni-saarland.de.